07.07.2016
FOTO UND TEXT: Daniel Mettler
Claudia Macht, 51, Stadtführerin, vor dem Tourist Office in St. Gallen.

Claudia Macht, 51, Stadtführerin, vor dem Tourist Office in St. Gallen.

Mein Tag als

Stadtführerin

Kathedrale, Erker, Textilien, Bratwurst, Biber – Claudia Macht kennt sich aus. Die St. Galler Stadtführerin zeigt Gruppen aus aller Welt, und immer mehr Einheimischen, die Sehenswürdigkeiten und Spezialitäten von St. Gallen.

«Die Vorbereitung für eine Führung beginnt gleich nach der Anmeldung. Ich informiere mich über die Gruppe und die gewünschte Tour: Kommen Einheimische oder Auswärtige? Will der Kunde eine Themen- oder eine Standardführung? Haben die Gäste besondere Wünsche? Je nachdem brauche ich mehr oder weniger Vorbereitungszeit. Mit meinen zwölf Jahren Erfahrung als Stadtführerin muss ich eine Standardführung kaum mehr vorbereiten. Da kenne ich den Ablauf fast auf die Sekunde genau. Bei Themenführungen und Sonderwünschen ist der Aufwand grösser, manchmal muss ich mich in das Thema einlesen und Bilder oder Stoffmuster zum Vorzeigen zusammensuchen.

Je nachdem beginnt mein Tag früh, da die Führungen schon um acht Uhr beginnen können. Wenn dann die Teilnehmenden kommen, begrüsse ich sie, kläre ab, in welcher Sprache ich sprechen soll, und informiere über den Ablauf der Führung. Diese kann zwischen einer und vier Stunden dauern. Ich möchte möglichst schnell eine persönliche Verbindung zur Gruppe herstellen. Denn ich bin mit Leib und Seele Stadtführerin. Sobald ich vor den Gästen stehe und die ersten Worte sage, strahlt es in mir.

Jede Gruppe ist anders, in Bezug auf die Herkunft, die Mentalität oder den Kulturkreis. Deshalb bereite ich mich möglichst gut auf sie vor. Was zeige ich ihnen? Einer St. Galler Gruppe muss ich nichts Grundsätzliches erklären. Dafür lege ich hier viel Wert auf die Details und versuche, ihr Neues zu vermitteln. Dies gelingt mir meist. Auch wenn mir die Teilnehmenden am Anfang sagen, sie würden sich in der Stadt auskennen. So ist es auch schon vorgekommen, dass nach der Führung jemand zu mir kam und meinte: ‹Jetzt wohne ich schon seit meiner Geburt in dieser Stadt und bin heute zum ersten Mal durch diese Gasse gegangen.›
Bei den Auswärtigen gehe ich mehr auf die allgemeine Geschichte ein: weshalb hier ein Kloster stand, wie St. Gallen zur Textilstadt wurde oder weshalb so viele Häuser im Jugendstil gebaut wurden. Bei Asiaten erkläre ich auch die christlichen Gebräuche und worauf man bei einem Kirchenbesuch zu achten hat, bevor wir die Kathedrale besuchen.

Als ich 2002 anfing, hatte ich fast nie Schweizer Besucher. Dafür kamen viele Europäer – vor allem Deutsche, Griechen und Franzosen –, Amerikaner und Kanadier. Heute sind es sehr viele Personen aus St. Gallen und Umgebung, die ihre Heimatstadt näher kennenlernen wollen. Man besinnt sich wieder auf seine Herkunft. Die Einheimischen kommen öfters auch mehrmals, meist zuerst zu allgemeinen und danach zu den spezielleren Themenführungen. Griechische Gäste besuchen uns fast keine mehr, und auch die Anzahl Amerikaner hat abgenommen. Dafür nimmt der Anteil an asiatischen Touristen zu.

St. Gallen-Bodensee Tourismus bietet öffentliche wie auch Touren auf Anmeldung an. Ein Standardrundgang zeigt die Altstadt, vor allem auch die Erker, die Textilstadt, den Stiftsbezirk mit der Bibliothek und die Kathedrale. Bei Interesse für die textile Vergangenheit besuchen wir das Textilmuseum und zeigen die Textilbauten.
Die fünfzehn bis zwanzig Themenführungen konzentrieren sich auf einen bestimmten Aspekt, zum Beispiel nur die Erker, die Reformation oder das Mittelalter. Bei einem Beizenbummel besuchen wir diverse Restaurants, essen da jeweils einen Gang des Menüs und zeigen dazwischen die Stadt. Bei den Probiererli-Touren lernen die Teilnehmenden die sanktgallischen Spezialitäten – Bratwurst, Bier, Biber, Käse und Schokolade – und ihre Geschichte kennen.
Da ich lange in Griechenland gelebt und bei meiner Rückkehr festgestellt habe, dass viele Abbildungen und Figuren an den Häusern und Erkern griechische Götter darstellen, habe ich eine spezielle Götterführung ausgearbeitet. So hat jeder Führer, jede Führerin seine beziehungsweise ihre eigenen Besonderheiten. Die Auswahl reicht von Architekturführungen, einem medizingeschichtlichen Rundgang, einem Spaziergang durch die Mülenenschlucht bis zu speziellen Weihnachtsführungen.

Stadtführer kommen aus den verschiedensten Berufen wie Lehrer, Stewardess, Reiseleiter oder auch Hausfrau. Das Grundwissen vermitteln erfahrene Stadtführer in verschiedenen Themenpaketen und -tagen. Dazu kommt die Vertiefung des Wissens über Literatur im Selbststudium. Am Schluss zeigen die angehenden Guides an Probeführungen, was sie gelernt haben. Das Wichtigste ist Begeisterung, Freude an Menschen, Sprachkenntnisse, gute Allgemeinbildung, Freude an der Wissensvermittlung und die Liebe zur Stadt. Nach der ersten Ausbildung ist permanente Weiterbildung angesagt. Die Stadt verändert sich, zum Beispiel finden neue Ausstellungen statt, oder die Themenschwerpunkte in den Museen ändern sich. Wir müssen immer ‹up to date› und informiert sein. So verbringe ich meine Abende mit Weiterbildung oder widme mich meiner eigenen Firma FoodTrail, mit der ich neue, genussvolle Touren und andere touristische Angebote entwickle.

Wenn der Gast mit einem Lächeln geht, wenn er sagt: ‹Wir hatten eine gute Zeit, wir konnten etwas probieren, wir haben einen Tipp bekommen›, dann habe ich das Ziel erreicht. So ist jeder Tag und jede Führung anders, sei es aufgrund der Jahreszeit, des Wetters oder der Gäste. Das Leben einer Stadtführerin wird nie langweilig.»