11.02.2016

Sara Kocher kennt durch ihren Beruf die Sonnen- und Schattenseiten des Lebens.

Mein Tag als

Pfarrerin

Für Sara Kocher, 54, gleicht kein Arbeitstag dem anderen: Eine Pfarrerin beschäftigt sich nicht bloss mit der nächsten Sonntagspredigt. Viele weitere Themen gehören dazu, etwa die laufende Kirchenreform.

«Seit neun Jahren wirke ich als Pfarrerin der Reformierten Kirchgemeinde von Zürich Wiedikon. Aufgewachsen bin ich in einer toleranten Familie in der Stadt Bern. Das hört man sofort an meinem behäbigen Dialekt. Von der angeblichen Zürcher Arroganz verspüre ich nichts. Schon eher wäre der Einstieg für einen Zürcher Pfarrer im Bernbiet nicht einfach.

Das Spektrum meines Wirkens reicht von Taufgesprächen über die Leitung der Frauenabendgruppe bis zu Krankenbesuchen und Sterbebegleitungen. Zudem engagiere ich mich in der Erwachsenenbildung und gebe Meditationskurse, wo Leute jeden Alters zusammenkommen. Für unsere Gemeindeseite im Magazin Reformiert schreibe ich heute Nachmittag einen Artikel über die im ersten oder zweiten Jahrhundert geborene Märtyrerin Thekla. Sie weist uns aus den Anfängen des Christentums den Weg zu mutigen und selbstbestimmten Frauen.

Täglich erledige ich auch unspektakuläre Arbeiten wie die Beantwortung zahlreicher Mails oder etwa die Gestaltung von Flyern für unsere Anlässe. Manches hat nichts direkt mit Theologie zu tun. Wenn ich an einem Filmabend ««Jenseits von Eden»» mit James Dean zeige, muss ich vorher eine Genehmigung für die öffentliche Vorführung einholen. Bedauerlich finde ich, dass wir unsere Kirche ausserhalb von Gottesdiensten und Veranstaltungen wegen möglichem Vandalismus geschlossen halten müssen.

Stark beschäftigt uns Pfarrer und Pfarrerinnen die laufende Kirchenreform. Alles ist gegenwärtig im Fluss. Um Kosten einzusparen und die Kirche näher zu den Menschen mit ihren vielfältigen Bedürfnissen zu bringen, werden die 34 Kirchgemeinden der Stadt Zürich ab 2019 zu einer einzigen Gemeinde umgestaltet. Die vielen Konferenzen und Gespräche sind mit hohem Zeitaufwand verbunden. Mein Tagespensum gleicht häufig einem Dauerlauf. Manche Arbeitstage ziehen sich bis in den Abend oder sogar in die Nacht hinein. Bei meinem Mann, in der Meditation, beim Wandern, beim Lesen und bei unserer Katze kann ich wieder Kraft schöpfen.

Nach meiner Ausbildung zur Lehrerin entschloss ich mich zum Theologiestudium. Damals, in den 1980er Jahren, stieg der Frauenanteil markant und erreichte schon bald einen Drittel. Die Aufwärtstendenz hielt an, und heute stellen wir nahezu die Hälfte der Kirchenleute. Meine erste Gemeinde als junge Pfarrerin war Twann am Bielersee. Alleine auf mich gestellt die Akzeptanz der Dorfgemeinschaft zu erringen, war eine Knacknuss. Viele Herzen gewonnen habe ich schliesslich mit den Abdankungen und der Jugendarbeit. Die treffenden Worte bei einer Beerdigung zu finden, ist etwas vom Anspruchsvollsten für eine Pfarrerin. Die Erwartungen der Trauergemeinde sind gross. Vom Leben des Verstorbenen soll ein Bogen zum Glauben geschlagen werden, ohne dabei in Lobhudelei zu verfallen.

Mit besonderer Ernsthaftigkeit gehe ich bei den Vorbereitungen für meine Predigten vor. Schon am Montag beginne ich mir Gedanken zu machen. Ich analysiere einen Bibeltext auf seine Aussage hin und versuche aktuelle Parallelen zum Persönlichen und Gesellschaftlichen aufzuzeigen. Das scheint mir für die Verkündigung des Evangeliums der richtige Weg zu sein. Wichtig für die Gestaltung der Predigt sind mundgerechte Formulierungen statt lange Sätze, um die Aussprache in Mundart zu erleichtern. Vor dem Sonntag übe ich noch das gesprochene Einlesen. Umformuliert in Lesetexte bewahre ich manche Predigten auf.

Am Herzen liegt mir unser Umgang mit den Tieren. Auch sie gelten nach der biblischen Tradition als Geschöpfe Gottes. Doch wir haben alles Mass verloren. Der Fleischkonsum ist überbordend. Es gibt Manager, die denken darüber nach, wie man Fleisch noch in Desserts verwenden könnte. Die internationale Fleischindustrie trägt zur Armut in der Welt entscheidend bei. Durch die immense Rodung von Weideflächen für Vieh, das für den westlichen Fleischhunger geschlachtet wird, werden Einheimische vertrieben und verarmen. Ich finde es problematisch, wenn in Gottesdiensten von der fragilen Schöpfung und der galoppierenden Armut gesprochen wird und danach unreflektiert irgendwelche Bratwürste im Kirchgarten grilliert werden. Wir sollten doch mit gutem Beispiel vorangehen.

Es stört mich, wenn in der Presse einseitig das Bild von leeren Kirchen hervorgehoben wird. Letztlich ist der Rückzug aus Institutionen und Vereinen ein gesellschaftliches Phänomen, das nicht nur die Kirchen betrifft. Zu wenig wird die wertvolle Hintergrundarbeit unserer Beratungsstellen für viele Lebensbereiche bis zur Organisation von Konzerten gewürdigt. Wir begleiten die Menschen an wichtigen Stationen des Lebens wie Geburt und Taufe, Erwachsenwerden und Konfirmation, Liebe und Hochzeit, Trauer und Aufbruch, Krankheit und Genesung sowie dem Abschied vom Leben. Es ist unsere Aufgabe, in der Öffentlichkeit verstärkt darauf aufmerksam zu machen.»