26.06.2017
FOTO UND TEXT: Nina Baiker

Geglückte Rehabilitation: Christine Dürst (mit Timy) hat dem Schlaganfall getrotzt.

Verlust der Sprache

K.-o.-Schlag durchs eigene Gehirn

Ein Hirnschlag zerstörte das sprachliche Netzwerk in Christine Dürsts Gehirn. Sie war sprach- und sprechgeschädigt. Trotz bestehender Wortfindungsstörung gelang der Buchführungsexpertin die Rückkehr an den Arbeitsplatz.

Nach jenem Tag im September 2014 war für Christine Dürst nichts mehr wie davor. Unbeschwert und leichtfüssig hatte er beim Hundetraining begonnen, aber tragisch geendet. Plaudernd auf der Rückfahrt im Auto, wollte die 62-Jährige ihrer Freundin antworten – doch sie blieb stumm. Die Buchführungsexpertin vermochte ihren Gedanken nicht in Worte zu fassen. Sie fuhr an den Strassenrand im Bewusstsein, dass etwas Unbestimmtes in ihr ablief – ohne Möglichkeit einer Einflussnahme. Sie hatte einen «stillen» Schlaganfall erlitten; dieser trifft und schädigt das Gehirn typischerweise ohne Warnzeichen. «Ich hatte keine Symptome bis auf ein unangenehmes Gefühl und war irritiert», erinnert sich Christine Dürst. Zuhause versuchte sie, dem Durcheinander ihrer Gefühle zu entkommen. «Ich wollte mir nur die Decke über den Kopf ziehen – und die Kontrolle über mich gewinnen.»

«Innert einer Stunde wurden meine Existenz und Identität zerschlagen.»

Aber dies gelang ihr nicht. Im Gegenteil. Ihr Zustand verschlechterte sich zwischen Transport und Ankunft in der Notfallstation drastisch: Die Hirnschädigung hatte die Sprache, das Gleichgewicht und die Koordination hinweggefegt. «Innert einer Stunde wurde meine Existenz aus den Fugen gehoben und meine Identität zerschlagen.»

Im Kokon – die Welt einer Aphasikerin
Wer an Aphasie leidet, also durch einen Schlaganfall die Sprachfähigkeit verloren hat, vermag weiterhin klar zu denken und zu fühlen. So hatte die erfahrene Berufsfrau ihr Wissen präsent. Als sie im Spital zur Bestimmung der Diagnose befragt wurde, wusste sie die Antworten, klar und präzise. Aber sie brabbelte die Worte nur unverständlich. Die sonst so Wortgewandte verständigte sich schliesslich nur durch Nicken oder ein Kopfschütteln. Die ganze Tragweite des Hirnschlags realisierte sie allerdings erst, als die Ärzte fragten, was zu tun sei, wenn ihr Herz stillstünde. «Ich wollte keinesfalls reanimiert werden. Aber was würde alles unerledigt bleiben? Was würde mit meinem Hund geschehen?»

Unterstützt von einer Logopädin, begann die Tierfreundin mit täglichem Sprachtraining, um wieder einen Alltagswortschatz aufzubauen. Erst einmal Vokale und Worte zu artikulieren, später den Sprachrhythmus zu treffen und passende Worte zu finden. Schliesslich arbeitete sie unentwegt am Sprachfluss. «Ich habe keine Ahnung, wie es mir gelang, jeden Tag von neuem Mut zu schöpfen. Vielleicht war es ein Reflex, mich vom ersten Moment an zu wehren.» Die Geschäftsführerin verordnete sich einen rigorosen Selbstunterricht.

«Aufgeben war keine Option für mich.»

 «Um meine Koordination und Feinmotorik zurückzugewinnen, faltete ich stundenlang Papiertaschentücher zusammen und wieder auseinander. Des Nachts erklomm ich mühselig die Treppen und stieg vorsichtig wieder herunter, obwohl mir das Treppensteigen untersagt war.» So gelang es Christine Dürst, Bruchstücke ihrer verlorenen Fähigkeiten wiederzuerlangen. «Ich entwickelte eine Disziplin wie früher bei den Wettkämpfen mit meinem Rennrad. Ähnlich den Bergetappen nutzte ich meine ‹Kletterqualitäten›. Mit Kraft und Ausdauer wollte ich auch diesen Gipfel bezwingen. Aufgeben war niemals eine Option für mich.»

Christine Dürst erlebte den Schlaganfall wie einen K.-o.-Schlag durch ihr eigenes Gehirn. Der Spitalaufenthalt dauerte drei Wochen, mit einer anschliessenden zweiwöchigen stationären Rehabilitation. «Während der gesamten Zeit lernte ich unermüdlich – machte aber nur langsam Fortschritte. Trotzdem war ich überzeugt, dass ich nach der Rehabilitation bereits wieder arbeitsfähig sein würde.» Auf ihr Drängen hin stellte der Arzt ein Zeugnis aus: 100 Prozent arbeitsfähig. Doch die Wettkampferfahrene scheiterte am Alltag. Alltägliche Dinge wie die Körperpflege oder Haushaltsarbeiten erforderten grosse Konzentration und Kraft. «Meine Aufmerksamkeit war eingeschränkt, und ich konnte mich nur noch auf eine Sache konzentrieren.» Ungewohnt für die Lebenserfahrene, musste sie sich selbst Zeit gewähren. «Ich hatte meine Behinderung unterschätzt.» So blieb sie drei Monate bei ihrer Freundin wohnen. Diese führte die Rehabilitation auf ihre Art weiter. Christine Dürst wurde zur Haushaltshilfe und Sekretärin erkoren. So verbesserten sich ihre Koordination und ihre Handschrift zusehends.

In einem Strudel aus Versagensängsten
Den Alltag meistern wir nicht zuletzt dank der Sprache – dem elementaren Bindeglied unseres Zusammenlebens. Besonders in Stresssituationen oder im Gespräch mit mehreren Personen hatte Christine Dürst Schwierigkeiten, die passenden Worte zu finden. «Die mir vertraute Verständigung war unmöglich. Insbesondere war ich zu langsam, um am Ball zu bleiben. Telefongespräche waren mir ein Gräuel; ich war nervös und unsicher.»

Ein Schlaganfall zerstört oder beschädigt die Zellen im Gehirn. Dieses tauscht Informationen über eine dichte Vernetzung aus. Beschädigte Zellen können Informationen nicht mehr auf die ursprüngliche Weise austauschen. Daher sind von einer Hirnschädigung auch verschiedene Fähigkeiten betroffen. So hatte Christine Dürst auch Schwierigkeiten beim Schreiben und Lesen. Sie machte orthographische Fehler oder liess beim Lesen von Texten Abschnitte aus. «Auch Radio- oder Fernsehsendungen zu verfolgen, strengte mich sehr an und bereitete mir Mühe.»

«Mir meine Behinderung einzugestehen, ist eine Zumutung des Lebens.»

Die ersten Erfahrungen in der Öffentlichkeit waren bitter. «Durch mein Handicap kam es immer zu unangenehmen Situationen. Viele fühlten sich durch mich gestresst und waren ungehalten.» So versuchte sie zunächst, ihre Defizite zu verbergen. «Aber dadurch erschwerte ich meine Situation zusätzlich. Ich geriet in einen Strudel aus Versagensängsten. Dadurch fiel meine Behinderung erst recht auf.»

Sie empfand sich ausgegrenzt und nicht für «voll» genommen: «Ich fühlte mich beschämt und war in meiner Würde verletzt. Durch meine Koordinationsschwierigkeiten gehörte ich nun auch jenem Personenkreis an, über welchen ich mich einst mokiert hatte.» Die ehemals Multisportive, die auf Rennrad oder schwerem Motorrad mit Windesflügeln unterwegs war, teilt heute das Tempo vieler. «Ich gehöre nun auch zu den Personen, welche die Kassiererin bitten, das Kleingeld selbst herauszuklauben. Ich nehme den Unmut in der länger werdenden Schlange wahr.» Sich selbst die Behinderung einzugestehen, war für sie eine Zumutung des Lebens. «Wir geben unserem Dasein einen Rahmen und versuchen zeitlebens, jede Idee und jedes Ereignis einzupassen. Meine Behinderung greift meinen Lebensrahmen an und stösst meine Glaubensgrundsätze um.»

Aphasiebetroffene erleben einen ganzen Knäuel an Veränderungen, physische wie psychische. Die psychosozialen Verhältnisse verrücken für alle, dauerhaft – Partner, Familie, Berufs- und Freizeitkollegen. «Es war zermürbend, meine Defizite zu akzeptieren, und ich haderte damit, meine eigenen Leistungsanforderungen zu reduzieren.»

Arbeitnehmerin mit Handicap
Die Expertin für Rechnungsführung benötigte ein knappes Jahr, um den Anforderungen ihres gewohnten Alltags wieder einigermassen gerecht zu werden. Ihr Arbeitgeber, ein KMU der Baubranche, hielt die ganze Zeit zu ihr und stellte zur Überbrückung eine temporäre Ersatzkraft ein. Diese junge Frau erledigte die anfallenden Arbeiten in der Administration und im Rechnungswesen. Die Aufgabenbereiche «Leitung Rechnungswesen und Personal» sollte nach ihrer Rückkehr weiterhin Christine Dürst übernehmen.

«Mein Arbeitgeber hielt immer zu mir.»

Als sie an den gewohnten Arbeitsplatz zurückkehrte, war der neue Alltag für sie ernüchternd. «Die Arbeitsweise mit meinen Kollegen war befremdend. Nun war ich die Lernende, die zu Unterstützende.» Während einiger Monate betrug ihre tägliche Arbeitszeit maximal zwei Stunden. «Ich war nicht fähig, mich länger zu konzentrieren.» Daher variierte das Arbeitsvolumen von Tag zu Tag, abhängig von ihrer physischen und psychischen Verfassung. Mit der Zeit wich der tägliche Kampf zusehends einer neuen Arbeitsfreude. Auch das «Lehrer-Schüler-Verhältnis» wandelte sich. Nun konnte Christine Dürst wieder aus ihrer langjährigen Erfahrung schöpfen: Sie lehrte die junge Ersatzkraft die gesamte Buchführung. «An die früheren Leistungen kann ich nicht anknüpfen.» Die unentwegt Couragierte hatte einen mühevollen Kampf mit sich selbst und gegen ihren gewohnten Lebensrahmen geführt. Gewonnen hat sie eine realistische Einstellung gegenüber ihren Defiziten und eine «Lebensoffenheit». «Ich bin wieder partiell selbständig erwerbstätig.» Sie arbeitet nicht mehr wie früher zehn bis zwölf Stunden täglich, sondern vielleicht sechs oder sieben. «Ich mag meine Arbeit sehr und lebe erfüllt.»

Aphasie und Schlaganfall
Der vollständige oder partielle Verlust der Sprache nennt sich Aphasie. Aphasien sind erworbene Sprach- und Kommunikationsstörungen; dabei wird das Sprachzentrum des Gehirns geschädigt. Die aphasischen Störungen erstrecken sich auf Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben. Es gibt verschiedene Typen der Aphasie. Die häufigste Ursache ist ein Schlaganfall, also eine Durchblutungsstörung des Gehirns (in etwa 85 Prozent der Fälle verursacht ein Schlaganfall eine Aphasie).

Ein Schlaganfall ist ein Notfall. Jede verstrichene Minute schadet dem Gehirn. Bei Verdacht auf einen Schlaganfall sollte umgehend der Notarzt kontaktiert werden. Nach einer Zeitspanne von rund drei Minuten ist der angerichtete Schaden irreversibel. Studien zeigen, dass jede Minute der Durchblutungsstörung des Gehirns schädlich ist. Eine frühe Behandlung ist daher zwingend.