23.06.2015
FOTOS UND TEXT: Katja Imme
Indre Jain (71)

Indre Jain – mit Leib und Seele Bauingenieur.

Aktiv 60+

Einundsiebzig – und mitten im Arbeitsleben

Indre Jain setzt sich nicht zur Ruhe, sondern pendelt zwischen Bern und Kopenhagen – aus Leidenschaft für Bahnprojekte. Der aus Indien stammende Bauingenieur ist der Schweiz und seinem Arbeitgeber seit fast 50 Jahren treu.

Routiniert steuert Indre Jain den Flughafenausgang an, einen unauffälligen Rollkoffer hinter sich herziehend. Wie ein Geschäftsmann sieht er nicht aus. Er trägt keinen Anzug, nur eine schlichte Übergangsjacke. Kein weisses Hemd, sondern Pullunder zum Polohemd. Ein Handlungsreisender? Er weiss genau, ob es sich lohnt, einen Zahn zuzulegen, um den nächsten Zug zu erwischen. Und wartet auf dem Perron genau auf Höhe des dritten Wagens, nach dem rollstuhlgerechten und dem Ruhewaggon.

Seit gut sechs Jahren geht das so. Montags hin, donnerstags zurück. Dies war sein etwa 250. Flug zwischen Kopenhagen und Zürich. Längst Gewohnheit, nichts Besonderes. Die Meilen auf seinem Konto zählt er nicht mehr.

Rüstiger Rentner

Dass er mit 71 Jahren noch ein 100-prozentiges Pensum leistet, ist kein Vorsatz. Im März 2009 geht der Bauingenieur nicht planmässig in Pension. Wegen der Lärmsanierung auf der Bahnstrecke Muri–Thun überzieht er um ein paar Monate. Ehrensache für ihn als Projektleiter. Wer ahnt denn, dass ihm die Firma auf der Weihnachtsfeier einen Posten im Projekt European Train Control System (ETCS) der Dänischen Bahn anträgt?

Er zögert nicht lang, denn seine Freude an Bahnprojekten ist ungebrochen. Seine Frau ist einverstanden. Sie kümmert sich derweil um die vier noch kleinen Enkeltöchter. Ein- bis zweimal im Jahr begleitet sie ihn nach Kopenhagen.

Ein gewohntes Bild: Indre Jain donnerstags am Terminal 2.

Indre Jain arbeitet gern. Er ist mit Leib und Seele Bauingenieur. Dabei ist seine Berufswahl nur eine Auswahl. Für den Spross einer indischen Mittelstandsfamilie gehört sich eine Karriere als Arzt, Rechtsanwalt oder eben Bauingenieur. Er entscheidet sich für Letzteres, ohne je zu bereuen. «Es bringt allgemein nichts, Tatsachen oder einmal gefasste Beschlüsse anzuzweifeln. Alles ist eine Frage der Einstellung. Man muss einfach das Beste daraus machen», sagt er bestimmt.

Neue Heimat

1965 schickt ihn sein Vater nach Deutschland. Er soll erste Berufserfahrung im Ausland sammeln. Der Vater weiss ihn dort nicht allein, denn Indre Jains Onkel ist damals in Wyhlen, einer kleinen Gemeinde an der Grenze zur Schweiz und zu Frankreich. Zwei Jahre später folgt Indre Jain einem Angebot der Firma Emch und Berger in Bern. Nach fünf Jahren könnte er zurückkehren in seine Heimat, hat sogar eine Stelle in Mumbai in Aussicht. Das sind allerdings über 1000 Kilometer Luftlinie nach Delhi, wo seine Familie lebt. Die hätte dann nicht mehr von ihm, als wenn er in Europa bliebe, reklamiert der Vater.

«Alles im Leben ist eine Frage der Einstellung. Man muss einfach das Beste daraus machen.»

Indre Jain

Seine zukünftige Frau suchen die Eltern für ihn aus. Damals üblich, noch heute in seinem Kulturkreis verbreitet. Die beiden heiraten 1967 in Indien. «Wir haben uns durch das Leben in der Schweiz mehr oder weniger bewusst dem Einfluss unserer Familien entzogen», bekennt er, während er aus dem Zugfenster schaut. Zunächst in Bern wohnend, gehört das Paar 1972 zu den Erstbezügern der Überbauung Kappelenring in Wohlen (BE). Im nahen Schrebergarten pflanzen sie Beeren, bauen Gemüse an, pflegen ein Biotop und unkomplizierte Nachbarschaft.

Mit ihren zwei Söhnen sprechen die Eltern anfangs noch Hindi, ab der Kindergartenzeit immer häufiger Deutsch. Sie erziehen sie eher schweizerisch als indisch. Der Vater gewährt ihnen mehr Freiheiten, als er sie selbst einst hatte. So mischt er sich in deren Berufswahl – Betriebswirtschaft mit IT und Ethnologie – auch kaum ein. «In meine Fussstapfen als Bauingenieur wollten sie nicht treten, auch weil sie das mit Aussicht auf viel Arbeit verbanden», erklärt er.

Arbeit hält gesund

Damit haben die Söhne nicht Unrecht. Indre Jain arbeitet viel, denn er arbeitet gern. Zeitweise doziert er nebenbei an der Berner Fachschule Architektur, Holz und Bau über Projektmanagement, und zwar samstags.

Anfangs befasst er sich mit Bauprojekten des konstruktiven Ingenieurbaus wie Industrie- und Verwaltungsgebäuden. Das Kernkraftwerk Mühleberg ist darunter. Mehr und mehr faszinieren ihn die Infrastrukturprojekte der Bahn. Wie jetzt, da er die Neubaustrecke Mattstetten–Rothrist passiert, erinnert er sich jedes Mal mit Stolz an seine Zeit als Projektleiter «Bahn 2000».

Indre Jain, 71, wächst in Indien mit vier Geschwistern auf. Sein Bauingenieurstudium absolviert er an der Jodhpur National University (Rajasthan). 

Zu seinen wichtigsten Projekten im konstruktiven Ingenieurbau zählen das Kernkraftwerk Mühleberg, Nestlés Verwaltungsgebäude in Vevey sowie der Umbau der Schweizerischen Nationalbank in Bern. Als Projekt- und Abteilungsleiter ist er an bedeutenden Bahnbauprojekten wie der Neubaustrecke (NBS) Mattstetten–Rothrist, der NBS Erfurt–Halle/Leipzig (D) und der Neugestaltung des Bahnhofs Visp beteiligt. Seit seiner Pensionierung 2009 arbeitet er als Projektleiter für das European Train Control System (ETCS) der Dänischen Bahn.

Seit 1967 lebt er mit seiner Frau in der Schweiz. Beide sind seit 1982 eingebürgert.

Er ist zufrieden, die Früchte seiner Arbeit zu sehen, zu wissen, dass er etwas erschafft, das gebraucht wird. «Ich gebe gern mein Fachwissen und meine Erfahrung an die Nachfolger weiter. Es ist ein schönes Gefühl, mich auf diese Weise nützlich zu machen», sagt er.

Und natürlich freut es ihn, dass er bei seinem Arbeitgeber noch so hoch im Kurs steht. 

«Indre Jains Know-how ist für uns äusserst wertvoll», sagt Michael Havelka, Personalleiter von Emch und Berger. «Die Kunden schätzen ihn sehr, ebenso die Arbeitskollegen. Auch für seine agile Art.»

Durch die Arbeit nehme er sein Alter weniger wahr, ist Indre Jain überzeugt. «Ich habe einen Grund, morgens aufzustehen, mich einer Aufgabe zu widmen. Die Rückenschmerzen werden dabei nebensächlich. Arbeit hält mich gesund.»

Volle Kraft in der Freizeit

«Doch, ich habe ein Leben neben der Arbeit», sagt er. «Die rare Freizeit mit der Familie nutze ich umso intensiver.» Solange die Kinder klein waren, verlebten sie sie oft in der Ferienwohnung in Saas Fee. «Im Unterschied zu den Jungs waren meine Versuche im Skifahren nicht erfolgreich», verrät er. «Ich vergnügte mich beim Langlaufen.» Jedes Jahr verbringen die Jains Ferien in Indien.

Noch heute spielt Indre Jain sonntags Tennis. Mit seiner Frau und zwei befreundeten Paaren verreist er seit deren Pensionierung regelmässig. Zu sechst waren sie schon in der Antarktis, auf den Galapagosinseln, in Botswana und Namibia. Dieses Jahr fahren sie mit der Transsibirischen Eisenbahn. Er geniesst, dass er nicht aufs Geld schauen muss. So liegt auch ein BMW Cabrio drin. Obwohl er und seine Frau am liebsten die Bahn nehmen. Für gemeinsame Ausflüge mit den Kindern und Enkeln, die mindestens einmal im Monat zu Besuch kommen, haben sie sich extra einen Siebensitzer zugelegt.

«In zwei Jahren feiern wir goldene Hochzeit, zeitgleich mit meinem älteren Bruder. Wir werden mit der ganzen Familie nach Delhi fliegen», freut er sich.

Zukunftsaussichten

Am Montag macht sich Indre Jain wieder auf den Weg. Im Rollkoffer, vakuumiert und eingeschweisst, vorbereitete Mahlzeiten zum Aufwärmen für vier Tage. «So muss ich nicht ins Restaurant gehen. Meine Frau kocht gut, sie weiss genau, was mir schmeckt – offensichtlich», sagt er schmunzelnd und gesteht: «Ich esse sogar Fleisch, obwohl das meiner Religion – dem Jainismus – widerspricht. Das hat sich so eingeschlichen, anfangs mangels Alternativen, und ist Gewohnheit geworden.»

Dieses Jahr blickt Indre Jain auf 50 Jahre Berufsleben zurück. Seit 48 Jahren lebt er in der Schweiz. Ebenso lang arbeitet er für Emch und Berger in Bern. Sein aktuelles Projekt für die Dänische Bahn läuft bis 2021: «Mein Arbeitsvertrag gilt jeweils für ein Jahr. In ein paar Monaten reden mein Chef und ich über die Zukunft. Ich lasse es auf mich zukommen, ob ich das 50-Jahr-Dienstjubiläum mit Emch und Berger erreiche.»

Emch und Berger gehört zu den führenden Ingenieur-, Planungs- und Beratungsunternehmen der Schweiz. Die 1953 gegründete Firma mit Sitz in Bern erbringt Dienstleistungen der Planung, Konzeption, Vermessung, Gesamtplanung, Beratung sowie Studien und Expertisen rund um Bau, Umwelt, Mobilität und Energie. Mit 600 Mitarbeitenden an über 20 Standorten in der Schweiz und einer Niederlassung in Kopenhagen erwirtschaftet Emch und Berger einen Umsatz von 85 Millionen Franken. Sämtliche Aktionäre der Gesellschaft sind Mitarbeitende.