11.04.2019
«Wer hat meinen Vater umgebracht» von Edouard Louis

«Wer hat meinen Vater umgebracht» – der wütende Schrei einer ganzen Gesellschaftsschicht.

Politik als Frage von Leben und Tod

«Herz im Hals, Lungen im Hals.» So fühlt sich der kleine Eddy Bellegueule, als seine Mutter ihn erwischt, wie er alleine in seinem Zimmer tanzt. So fühlt man sich auch beim Lesen von «Wer hat meinen Vater umgebracht», dem neuesten Buch von Édouard «Eddy» Louis.

Auf kaum 100 Seiten stellt der junge Autor Ausschnitte seiner Kindheit in einer benachteiligten Familie Nordfrankreichs dar. Dabei wendet er sich mit dem Du direkt an seinen Vater. Berührt erzählt er, wie dieser trotz Geldmangel zu Weihnachten viel zu viel Essen kaufte, aus Angst, anders zu sein als andere Familien. Wie er sich für seine fehlende Schulbildung vor seinem Sohn schämte. Wie er sich den Rücken durch einen Unfall in der Fabrik zerquetschte und dadurch arbeitsunfähig wurde. Erinnerungen kommen und gehen, ohne einer Chronologie zu folgen. Gewaltszenen mischen sich mit etwas verlegenen Liebeserklärungen, unausgesprochenen Schamgefühlen und Momenten des Missverständnisses.

Um das Elend der vergessenen Arbeiterklasse Frankreichs sichtbar und real zu machen, verwendet Louis einen direkten, schlichten Stil, der Seite für Seite eskaliert, bis es einem den Atem raubt. Denn das Buch ist nicht nur eine Autobiografie, sondern auch eine harsche Kritik an einer Politik, die seit 40 Jahren Frankreich dominiert. Eine Politik, die durch scheinbar unbedeutende Massnahmen das tägliche Leiden der am stärksten Benachteiligten verschlimmert hat. Sarkozy, Hollande, Macron: Die Täter werden hier namentlich angeprangert. Für diese sei Politik eine rein ästhetische Frage, sagt Louis. Für seine Familie sei es hingegen eine Frage von Leben und Tod. Entscheidungen, die im Körper der Betroffenen eingeschrieben werden, wie im Rücken seines Vaters.

«Herz im Hals, Lungen im Hals.» Genau so fühlt es sich an. Das Buch ist der wütende Schrei einer ganzen Gesellschaftsschicht, die seit Jahren unsichtbar gemacht wird und unter der aktuellen Politik Frankreichs still leidet. Es ist der Schrei eines Mannes, der von nun an die Namen aller Täter aussprechen will. Derjenigen, die seinen Vater umgebracht haben.

 

«Wer hat meinen Vater umgebracht» von Edouard Louis

Édouard Louis

Wer hat meinen Vater umgebracht
(Qui a tué mon père)

S. Fischer Verlag, 2019
Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel
80 Seiten, Fr. 24.90
ISBN: 978-3103974287