19.09.2016
FOTOS UND TEXT: Pascal Gut

Mark Herkenrath, Geschäftsführer von Alliance Sud, im Gespräch über die Agenda 2030 der UNO.

Nachhaltigkeit

«Wir sitzen alle auf einem Pulverfass»

Vor einem Jahr verabschiedete die UN-Vollversammlung in New York die Agenda 2030 für eine nachhaltige Welt. Mark Herkenrath, Geschäftsführer der entwicklungspolitischen Arbeitsgemeinschaft Alliance Sud, erklärt, wo wir in der Umsetzung stehen.

Herr Herkenrath, Sie sind Geschäftsführer von Alliance Sud. Wie zufrieden sind Sie mit der Agenda 2030?
Grundsätzlich finden wir die Agenda, so wie sie ist, sehr gut. Sie ist umfassend und multidimensional. Sie berücksichtigt die drei wichtigen Komponenten der Nachhaltigkeit: das Soziale, das Wirtschaftliche und das Ökologische. Und sie ist universell. Alle Länder, alle Privatakteure, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen müssen mitarbeiten. Alliance Sud sieht vor allem zwei Schwierigkeiten. Erstens ist die Frage der Finanzierung noch nicht geklärt. Schon bei der Vorkonferenz 2015 in Addis Abeba konnte keine befriedigende Lösung gefunden werden. 

«Die Industrieländer müssen dazu beim Konsum abspecken.»

Mark Herkenrath, Geschäftsführer Alliance Sud

Und zweitens?
Die zweite Schwierigkeit liegt in den potenziellen Zielkonflikten zwischen den drei Aspekten der Nachhaltigkeit. Das Ziel der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit beispielsweise kann bedeuten, dass ärmere Länder ein starkes Wirtschaftswachstum erzielen müssen, um die Armut beseitigen zu können. Dabei stellt sich die Frage, wie ein solches Wirtschaftswachstum möglich ist, ohne dass die Welt ökologischen Schaden nimmt. Das geht nur, wenn die Industrieländer ihren Raubbau an der Umwelt rückgängig machen. Die Industrieländer müssen dazu beim Konsum abspecken. Das macht die Agenda, die sehr diplomatisch formuliert ist, nicht deutlich.

Besteht nicht ein grundlegendes Problem der Debatte um Nachhaltigkeit darin, dass Politik und Wirtschaft den Leuten sagen: «Wir können nachhaltig sein, ohne dass wir auf irgendetwas verzichten müssen»?
Die Agenda 2030 geht tatsächlich davon aus, dass es möglich ist, ohne zusätzliche Umweltbelastung für alle Menschen genug Waren zu produzieren und bereitzustellen. In dieser Annahme steckt sehr viel Optimismus. Sie setzt einen enormen technischen Fortschritt voraus, der zudem den Entwicklungsländern zugänglich gemacht werden muss. Ich bin da pessimistischer. Der technologische Fortschritt kann sicher zur Linderung der Umweltbelastung beitragen, die Umsetzung wird trotzdem nicht ohne einen gewissen Verzicht gehen. Diese Annahme ist allerdings politisch nicht sehr sexy.

Was hat die Agenda 2030 in der Schweiz bisher ausgelöst? Sind neue Impulse erkennbar? 
Ja. Nimmt man die Agenda ernst, müssen sich Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik fragen: Wie sind wir bisher vorgegangen, und was bedeutet die Agenda für unsere zukünftige Arbeit? Tatsächlich fanden seit ihrer Verabschiedung viele Treffen zwischen den verschiedenen Akteuren statt, bei denen diese und weitere Fragen diskutiert wurden. Alliance Sud wird von Schweizer Unternehmen auf die Agenda 2030 angesprochen. Beispielsweise bitten sie uns um eine Einschätzung zu geplanten Investitionen in Entwicklungsländern. Das zeigt mir, dass ein Denkprozess in Gang gekommen ist. 

Foto: www.un.org

Agenda 2030

Im September 2015 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Die darin formulierten 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung und ihre 169 Unterziele beziehen sich auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung sowie ökologische Nachhaltigkeit. Gleichberechtigung, Frieden, das Ende von Hunger und Armut sowie Massnahmen gegen den Klimawandel sind nur einige der äusserst ehrgeizigen Ziele, die sich die Mitgliedstaaten gesetzt haben und die sie bis ins Jahr 2030 erreichen wollen.

Die Agenda 2030 ruft ausdrücklich zur Zusammenarbeit von Staat, Privatwirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft auf. Wie soll diese konkret aussehen?
Mit ihren 17 Zielen und 169 Unterzielen stellt die Agenda 2030 für jeden einzelnen Akteur erst einmal eine Überforderung dar. Niemand kann an 17 Zielen gleichzeitig arbeiten. Darum fokussiert man sich in der Regel auf zwei bis drei Ziele. Eine Organisation, die sich auf das Ziel der Armutsbekämpfung konzentriert, muss die Experten für die anderen Ziele in den eigenen Denkprozess miteinbeziehen und fragen: Welche Auswirkungen haben unsere Massnahmen im Bereich der Armutsbekämpfung auf die anderen Bereiche? Das gilt für die Wirtschaft, die Politik wie auch die NGO. Es braucht zwischen den Akteuren einen konstruktiv-kritischen Dialog. In den letzten Monaten nahmen wir an sehr vielen Treffen teil, an denen die Frage diskutiert wurde, wie die Partnerschaften zwischen den unterschiedlichen Akteuren aussehen sollen. Grosser Beliebtheit erfreut sich die Frage, wie neue Partnerschaften zwischen NGO und Wirtschaft aussehen könnten – ob sie in den Entwicklungsländern beispielsweise enger zusammenarbeiten sollen. Allerdings sollte die Agenda 2030 keine Art Partnervermittlungsinstitut werden, wo man die Frage der Zusammenarbeit auf solche Partnerschaftsmodelle reduziert. Als ob wir nur genügend Partnerschaften eingehen müssten, um die Nachhaltigkeitsziele umzusetzen. 

Welche Aufgabe kommt dem Bund zu? 
Die Staaten stehen als Unterzeichner der Agenda 2030 in der grössten Verantwortung. Konkret muss der Bund in Zukunft jeden Gesetzesvorschlag daraufhin befragen, was das Gesetz für die drei Nachhaltigkeitsaspekte der Agenda 2030 bedeutet, und nicht mehr nur auf seinen wirtschaftspolitischen Effekt. Zudem muss die Politik in Fällen, wo Unternehmen ihrer Verantwortung, Menschenrechte zu schützen oder Umweltstandards einzuhalten, nicht nachkommen, eingreifen und verbindliche Regeln erlassen.

«Es ist viel Aufklärungsarbeit nötig. Wir müssen aufzeigen, dass es langfristig so nicht weitergehen kann.»

Mark Herkenrath, Geschäftsführer Alliance Sud

Nun besteht ein Spannungsverhältnis zwischen verbindlichen Regeln und den wirtschaftlichen Eigeninteressen. Die Wirtschaft befürchtet eine Schwächung ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Sehen Sie da einen Ausweg?
Ich würde erst einmal nicht zwischen Eigen- und Solidarinteressen unterscheiden. Die erfolgreiche Umsetzung der Agenda 2030 ist nämlich im Eigeninteresse der Schweizer Wirtschaft. Wir sitzen alle auf einem Pulverfass. Es herrscht eine zu grosse soziale Ungleichheit, die bis hin zum Terrorismus führen kann. Wir sind bereits jetzt mit den ersten Folgen der Klimaerwärmung konfrontiert. Nichts zu unternehmen, wäre für die Wirtschaft eine Katastrophe. Es geht also um kurzfristige und langfristige Eigeninteressen. Im Moment neigt die Politik dazu, sich an den kurzfristigen Eigeninteressen zu orientieren. Nicht zuletzt, weil bestimmte Parteien das Gefühl der Verunsicherung im Hinblick auf eine mögliche neue Wirtschaftskrise fördern. Für Alliance Sud heisst das: Es ist viel Aufklärungsarbeit nötig. Wir müssen aufzeigen, dass es langfristig so nicht weitergehen kann.

Zur Umsetzung der Agenda 2030 setzt die Politik in hohem Masse auf den privaten Sektor. Unternehmen sollen vermehrt in den Entwicklungsländern investieren. Was halten Sie von diesem Ansatz? 
Mehr Investitionen wären vor allem in den ärmsten Entwicklungsländern sinnvoll. Aber egal, in welchem Land Investitionen getätigt werden, verschiedene Bedingungen müssen erfüllt sein, damit sie den betroffenen Ländern auch wirklich einen Nutzen bringen. Investitionen sollen nicht in Sektoren gehen, wo es bereits eine einheimische Wirtschaft gibt, die Gefahr läuft, von der ausländischen Konkurrenz verdrängt zu werden. Die Unternehmen müssen sicherstellen, dass bei ihnen die Menschenrechte und die Umweltstandards eingehalten werden. 

Alliance Sud
Alliance Sud ist die Arbeitsgemeinschaft der sechs Schweizer Hilfswerke Swissaid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas und HEKS. Die Organisation setzt sich für gerechte Nord-Süd-Beziehungen und eine nachhaltige Entwicklung ein. Gegründet wurde die Organisation als «Arbeitsgemeinschaft der Hilfswerke» 1971. Ihren Hauptsitz hat Alliance Sud in Bern.

Was können Unternehmen noch konkret tun, damit ihre Investitionen dem jeweiligen Land langfristig nützen?
Ausländische Unternehmen sollten in Entwicklungsländern bei einheimischen Zulieferfirmen ihre Vorprodukte beziehen, anstatt sie bei ihrer Konzernzentrale im Industrieland zu bestellen. Zudem sollten sie mehr Einheimische in Leitungspositionen einsetzen oder in den Verwaltungsrat aufnehmen. Was bei alldem aber nicht vergessen werden darf, sind die Steuern. Unternehmen müssen auf sogenannte Steueroptimierung verzichten und dürfen nicht länger ihre Gewinne auf durchaus legale Weise buchhalterisch in Tiefsteueroasen wie die Schweiz verschieben. Gewinne müssen vor Ort versteuert werden.

Das Problem des Geldabflusses aus den Entwicklungsländern wird von der Agenda 2030 ja durchaus benannt. Ist die Politik hier auf gutem Weg?
Die Agenda 2030 sagt klar, dass es Massnahmen braucht, um Steuervermeidungs- und Optimierungspraktiken zu unterbinden. Sie richtet sich einerseits direkt an die Unternehmen, andererseits verlangt sie von den Staaten, auf Steuerdumping zu verzichten und keine Möglichkeiten für unlautere Gewinnverschiebungen anzubieten. Bloss haben Aussen-, Entwicklungs- und Umweltminister die Agenda 2030 verhandelt – Politiker also, die in der Steuerpolitik, wenn es darauf ankommt, wenig zu sagen haben. Die eigentlichen Verhandlungen betreffend Steuervermeidungen führen Finanz- und Wirtschaftsminister, die sich wiederum bis jetzt kaum für die Agenda 2030 interessieren. Trotzdem hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD neue Regeln verabschiedet, die das Potenzial besitzen, Steuervermeidung durch Unternehmen zu verringern. Wie die Staaten das konkret umsetzen, ist noch offen.

Und wo steht da die Schweiz?
Bei der Schweiz beschleicht einen das Gefühl, diese neuen Regeln werden bilateral nur mit ausgewählten Partnern umgesetzt, vor allem anderen Industrieländern und Schwellenländern, welche politischen Druck ausüben können. Der Bundesrat hat auch noch keine Vorschläge dazu gemacht, wie die Entwicklungsländer zu den nötigen Daten kommen sollen, die sie bräuchten, um Unternehmenssteuervermeidung aufzudecken. Es wird noch viel Druck erforderlich sein, damit die Frage, wie die Entwicklungsländer von diesem System profitieren können, überhaupt erst gestellt wird.

Was bedeutet die Agenda 2030 für die Arbeit der NGO wie Alliance Sud?
Auch von uns verlangt die Agenda ein Umdenken. Wir müssen verstärkt über unsere Kernbereiche hinausschauen. Es ist dringend nötig, dass Umwelt- und Entwicklungsorganisationen in Zukunft stärker zusammenarbeiten und sich kritisch austauschen. Einzelne NGO und Unternehmen fangen schon jetzt mit der Umsetzung an. Bei genauerer Betrachtung entsteht allerdings häufig der Eindruck, sie picken sich zwei bis drei Ziele aus dem Katalog, die es ihnen ermöglichen, wie bisher weiterzumachen. Damit werden sie der Agenda nicht gerecht, weil sie sich die relevanten Fragen nach der Auswirkung der eigenen Tätigkeiten auf die anderen Nachhaltigkeitsbereiche gar nicht stellen. Es braucht also bei allen ein Umdenken.

 

Mark Herkenrath am LifeFair Forum. Foto: Pascal Gut

LifeFair Forum

Wie soll der Beitrag der Schweiz zur Umsetzung der Agenda 2030 aussehen? Dieser Frage stellten sich am LifeFair Forum im September Vertreter von Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik in Zürich. Das Forum versteht sich selbst als Plattform für Wirtschaft und Nachhaltigkeit und möchte den offenen Dialog zwischen Politik, Unternehmen und Gesellschaft fördern.

Die Podiumsteilnehmer betonten ihren Willen, zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 beizutragen. Juan Gonzalez-Valero, Globaler Leiter Public Policy und Nachhaltigkeit von Syngenta, berichtete von der Lancierung eines neuen Systems der Messbarmachung der eigenen Nachhaltigkeitsbemühungen. Weiter betonte er die erfolgreiche Zusammenarbeit mit der NGO «Volunteer Services Overseas». Das Resultat dieser Partnerschaft sei ein Geschäftsmodell, das auf kommerziell erfolgreichen Strukturen den ländlichen Gemeinden soziale Dienstleistungen gewähren könne. Jörg Solèr Standortleiter Lonza Werk Visp, plädierte für die Selbstverantwortung jedes Einzelnen, damit die Agenda 2030 nicht als Papiertiger ende.

In der Frage nach der Rolle des Staates gab es Uneinigkeit. Mark Herkenrath plädierte dafür, dass die Politik dort Vorgaben machen und Leitplanken setzen müsse, wo die Freiwilligkeit nicht ausreiche. Die Vertreter der Wirtschaft hingegen warnten davor, die Unternehmen in ein Korsett zu zwängen und sie in ihrer Innovationskraft zu schwächen. Filmemacher Samuel Schlaefli, der gemeinsam mit Esther Pletsche den Dokumentarfilm «The Climate Changers» gedreht hat, erklärte, wie er und andere Vertreter der Zivilgesellschaft in den letzten Jahren das Vertrauen in die Wirtschaft und ihre Bekundungen zu mehr Nachhaltigkeit verloren haben. Dieses Vertrauen müsse erst wieder aufgebaut werden.