03.05.2017
FOTO UND TEXT: Fabian Jeker

Veronika Minder in ihrem Zuhause in Bern.

Kulturschaffende im Unruhestand

«Mit Herzblut dranbleiben»

Veronika Minder, 69, erzählt im Interview von den wilden Berner Jahren, über ihr Berufsleben und die Frauenbewegung.

Veronika Minder, was treibt Sie an, auch nach dem Pensionsalter weiterhin als Kulturschaffende tätig zu sein?
Beruflich ging ich immer Dingen nach, die ich gerne tat. Dies entspricht der Philosophie der 1968er, welche Arbeit als etwas Entfremdendes betrachteten und daher Freizeit und Arbeit nicht trennen wollten. Weil ich mit dem Computer mehrheitlich zu Hause arbeite, kann ich mir die Zeit und die Arbeit selbst einteilen. Bereits vor meiner Pensionierung war ich von daheim aus tätig und fahre nun einfach weiter wie bisher. Für meinen Jahrgang lag das AHV-Alter noch bei 63 Jahren. Seither habe ich an zwei Projekten gearbeitet: am Film «My Generation» und an der Ausstellung «Bob, le Flaneur». 

Sie leben in Bern und Paris: Wo sind Sie zu Hause?
Paris und Bern, das sind zwei völlig verschiedene Welten. In Paris bin ich rund fünfmal im Jahr. Im Quartier unterhalb von Sacré-Cœur teile ich eine Wohnung mit einer Freundin. Das ist ein Ort, wo ich zu Hause bin und auch persönliche Dinge habe. Das Quartier ist sehr dicht besiedelt, kulturell sehr lebendig und intensiver, ein wenig frecher als Bern. Doch komme ich gerne nach Bern nach Hause. Die Ruhe bietet auch Vorteile. Dann ist da noch die Sprache. Ich spreche gut Französisch, aber innerlich übersetze ich doch immer und bin dadurch weniger spontan als die schnell denkenden und schnell sprechenden Pariserinnen und Pariser.

«My Generation» – in Ihrem Film aus dem Jahr 2012 haben Sie Altersgenossinnen und Altersgenossen der 1968er-Bewegung porträtiert. Wie haben Sie diese Zeit selbst erlebt?

Filmplakat zu «My Generation»

Es war eine gesellschaftliche Aufbruchzeit. Meine Generation lehnte sich vehement gegen ihre Elternhäuser auf: in der Schweiz gegen die Aktivdienstgeneration der Männer, in den umliegenden Ländern gegen die vom Krieg traumatisierten, zum Teil faschistisch eingestellten Eltern. Die Bewegung wird immer wieder am Pariser Mai von 1968 festgemacht. Dabei setzte die Entwicklung bereits früher ein. Zu erkennen ist dies in der Popmusik beispielsweise bei den Beatles, den Stones oder bei Jimi Hendrix. An der Universität Bern, wo ich Kunstgeschichte studierte, gab es laute Forderungen nach Demokratisierung und Verkürzung der Studiengänge. Letzteres wurde Jahre später mit der Bologna-Reform umgesetzt. Leider. Zu meiner Zeit an der Universität bestanden noch keine Studienzeitbegrenzungen. In Kunstgeschichte fanden sich einige ewige Studierende. Das Studium war damals noch vereinbar mit einer Erwerbstätigkeit und tiefgründiger als heute.

Bern soll damals hinter den Laubengängen besonders wild gewesen sein.
Bereits seit den 1950er-Jahren spielte sich das künstlerische Leben in der unteren Altstadt in den Wohnungen und Kellergewölben ab. Die schrecklich langweilige Oberstadt zwischen Käfigturm und Bahnhof, aus unserer Sicht bevölkert von Landeiern, liessen wir links liegen. In der Altstadt waren alle Fenster hell erleuchtet. Party-Groove herrschte. Es wurde mit Drogen experimentiert, viel mehr als in Zürich oder Basel. Lokale hatten bis um halb drei Uhr nachts geöffnet! In Zürich hingegen wurden die Trottoirs bereitsum halb zwölf hochgeklappt. Die Berner Altstadt, wo ich selbst auch wohnte, war wegen ihrer günstigen Mietpreise bei Studierenden, Künstlerinnen und Künstlern sowie armen Leuten sehr beliebt. Kein Vergleich zu heute! Die Kunsthalle mit dem jungen Direktor Harald Szeemann wirkte sehr befruchtend und brachte die Bürgerlichen auf die Palme. Neben den Kunsthalle-Festen und Privatpartys gab es keine attraktiven Ausgehmöglichkeiten für junge Leute unter 25 Jahren. Das war ein weiterer Grund, auf die Strasse zu gehen und diese für sich zu erobern.

In Bern sorgten auch die «Härdlütli» für Aufsehen.
Wir zelebrierten die Aktionskunst «Fluxus». Das waren Kunsthappenings. Inspiriert von der Kunsthalle unter Harald Szeemann. Auf Anstoss von Sergius Golowin kandidierten Margrit Probst, Pier Hänni, Polo Hofer und Carlo Lischetti 1971 für den Stadtrat, das Berner Stadtparlament. Sie posierten nackt auf dem Wahlplakat. Margrit Probst, eine Freundin von mir, wurde damals noch sehr jung, mit knapp 20 Jahren, und kurz nach Einführung des Frauenstimmrechts gewählt. Zusammen bereiteten wir Vorstösse vor, die teilweise auch angenommen wurden. So geht etwa die Adolf-Wölfli-Sammlung im Kunstmuseum Bern auf einen ihrer Vorstösse zurück. Doch die Männer im Stadtrat waren damals noch nicht bereit für Frauen, dazu noch junge Frauen, und geradezu bösartig eingestellt. Sie schnitten ihr das Wort ab. Margrit litt sehr darunter und verliess den Stadtrat nach ungefähr einem halben Jahr.

War die 1968er-Bewegung eine kulturelle oder eine politische?
Sowohl politisch wie auch kulturell. Es gab die linksintellektuelle Bewegung und die kulturell geprägten Hippies und Blumenkinder. Ich gehörte zur Hippie-Fraktion und wohnte in einer Wohngemeinschaft mit anderen Hippies. Alles war ungeregelt und frei. Eine gute Party zog ich politischen Veranstaltungen vor, an denen die mackerigen Studenten das Wort ergriffen. Diese langweilten mich. Mein damaliger Freund war in der POCH (Progressive Organisationen Schweiz) aktiv und wohnte in einer politischen Wohngemeinschaft. Dort war alles durchreguliert. Besuch musste jeweils angemeldet werden! Oft stritten wir darüber, ob das Sein das Bewusstsein bestimme oder das Bewusstsein das Sein. Die Frage klärte sich zu meinen Gunsten, als mein Freund seine erste Drogenerfahrung machte.

Kann Kultur zum gesellschaftlichen Wandel beitragen?
Für mich ist dies wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Nehmen wir junge Blogschreiber von heute als Beispiel. Sind dies Meinungsmacher und Beeinflusser oder Beobachter von Gleichaltrigen? 1968 existierte noch kein Internet. Doch auch wir schauten, was weltweit vor sich ging, und handelten danach, fühlten uns als eine Weltbewegung. Ich denke, Kultur und gesellschaftliche Realitäten beeinflussen sich gegenseitig.

1968 wird oft als von Männern dominierte Bewegung dargestellt. Trifft dies zu?
Es gab diese Macker in der linksintellektuellen Bewegung. Bei den Hippies waren die Geschlechterrollen hingegen undefiniert. Im Zuge der ersten Welle der Androgynie trugen die jungen Männer längere Haare als die Frauen.

Inwiefern diente die 1968er-Bewegung der Befreiung der Frauen?
Der offene Zeitgeist war bereits in den Köpfen, als das Frauenstimmrecht im Frühjahr 1971 in der Schweiz auf nationaler Ebene eingeführt wurde. Der Abstimmungskampf verlief sehr ruhig. Dem gegenüber stehen die negativen Erfahrungen von Margrit Probst im Berner Stadtrat. In der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) fühlte ich mich mit Anfang zwanzig nicht zu Hause. Die FBB erlebte ich damals als sehr handgestrickt und konnte mich nicht damit identifizieren. Aber die Gleichstellung, die ja bis heute noch nicht wirklich umgesetzt ist, war auch für uns als Hippie-Frauen ein wichtiges Ziel.

Wann hatten Sie Ihre persönliche Befreiung?
Filmplakat zu «Katzenball» (2005)Bereits als Kind war ich ein «Tomboy» und verhielt mich entsprechend der gängigen Geschlechterrolle von Buben. Ich wollte Ruedi genannt werden. Ende der 1970er-Jahre fand die erste Gay Pride statt. In den 1980ern stiegen rauschende Frauenfeste: die «Nuits femmeuses» in Zürich, «Le bal des chattes», der Katzenball in Genf, Frauenpartys in besetzten Häusern. Ich verliebte mich in eine Frau, hatte mein Coming-out, war dann nur noch mit Frauen zusammen. Gemeinsam mit anderen Frauen gründete ich die Frauendisco in der Berner Münstergasse, die später in die Reitschule umzog. Dort mussten wir uns gegen die Machos durchsetzen. Zudem organisierte ich Frauenkonzertreihen im «Bierhübeli».

Zahlreiche gesellschaftliche Errungenschaften wie die Gleichstellung der Geschlechter werden heute wieder in Frage gestellt. Braucht es eine neue 1968er-Bewegung?
Der «Backlash» setzte bereits mit Richard Nixon und Maggie Thatcher ein. Doch die Gesellschaft benötigt Utopien und Alternativen. In der Geschichte gab es immer Wellenbewegungen zwischen gesellschaftlichem Fortschritt und Rückschritt. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget sprach bei Kindern von «Reculer pour mieux avancer». Dies gilt auch für die Gesellschaft: Auf einen Rückschritt folgt ein Entwicklungsschritt. So hat Donald Trump eine neue feministische Bewegung losgetreten.

Sind jüngere Frauen weniger für Gleichstellungsfragen sensibilisiert?
Meine 17-jährige Enkelin kleidet sich wie Simone de Beauvoir. Sensibilisierung entsteht durch Betroffenheit und Leidensdruck. Wer Diskriminierung nicht selbst erlebt, hält sie für überwunden. Donald Trump hat Millionen von Frauen erfahren lassen, dass sie nach wie vor als Sexualobjekt angesehen werden. Persönlich versuche ich seit längerem, mich von der binären Geschlechterdefinition von Frau und Mann zu lösen. Was bedeutet überhaupt Mann und Frau? Denken wir zudem an Transmenschen.

Die göttliche Ordnung?
Den Film werde ich mir ansehen. Doch die Realität war noch viel lustiger. Eine Freundin wohnte in Herisau am Landsgemeindeplatz. Als die versammelten Männer wieder einmal das Frauenstimmrecht ablehnten, begann sie aus Zorn noch während der Landsgemeinde damit, ihren Hausrat aus dem Fenster auf den Platz zu werfen. Das war eine Aktion! Dennoch muss ich die Schweiz etwas in Schutz nehmen. In keinem anderen Land konnten die Männer alleine darüber abstimmen, ob sie den Frauen das Stimmrecht geben wollen. Deshalb ging es so wahnsinnig lange bei uns. Eine meiner Tanten, eine Appenzellerin, war Präsidentin eines Vereins gegen das Frauenstimmrecht! Meine Mutter war dafür. Sie sprachen und diskutierten dennoch miteinander. Mit der antikommunistischen Stimmung in der Schweiz bestand in bürgerlichen Milieus grosse Angst davor, die Frauen würden Links wählen. Gegen die lächerliche antikommunistische Grundhaltung wehrte sich auch die 1968er-Bewegung.

Inwiefern hat sich der Kulturbereich seit 1968 verändert?
Popkunst und Jugendbewegungen wurden rasch durch den Mainstream geschluckt und vom Kommerz vereinnahmt. Die Einführung des Computers und des Internets hat Kultur und Gesellschaft revolutioniert und beschleunigt. Alles wird vermarktet und der Wirtschaft unterworfen.

Sie blicken auf eine reichhaltige und vielfältige Tätigkeit als Kulturschaffende zurück. Was sagen Sie jungen Menschen, die im Kulturbereich tätig werden möchten?
Widmet euch Dingen, die euch Freude bereiten. Bleibt an begonnenen Projekten mit Herzblut dran. Persönlich arbeite ich gerne im Team. Bereits während des Studiums organisierte ich Partys und Konzerte. Nach dem Studium arbeitete ich zusammen mit meinem damaligen Mann in einem genossenschaftlichen Schallplattenladen. Nach der Trennung eröffnete ich mit drei Frauen einen Laden für Airbrush-Arbeiten. Wir gestalteten unter anderem Krawatten, Hemden, T-Shirts und Bettwäsche nach den Wünschen der Kundschaft. Wir stellten auch Schmuck her. In Zusammenarbeit mit dem Kleiderladen «OLMO» fanden Modeschauen statt. Es war eine spannende, aber finanziell prekäre Zeit. Als Geschäftsleiterin des Kellerkinos hatte ich ab 1988 erstmals ein fixes Einkommen. Meine längste berufliche Tätigkeit war freischaffende Putzfrau, wobei die soziale Betreuung älterer Menschen grossen Raum einnahm. Beim Putzen hatte ich viel Zeit zum Nachdenken über künstlerische Projekte. Als Kunsthistorikerin begann ich erst in den letzten Jahren zu arbeiten.

Was sind Ihre nächsten Pläne?
Im Anschluss an die Ausstellung «Bob, le Flaneur» von Ende 2015 über den Dekorateur Bob Steffen arbeite ich zusammen mit einer Grafikerin und einem Lektor an einem weiteren Buch. Ein Thema ist Dekoration als Kunstform, die es so heute nicht mehr gibt oder höchstens noch im Beruf des Bühnenbildners oder der Szenografin weiterlebt. Dekoration war eine dreidimensionale, analoge, haptische Tätigkeit, die auch vielseitige handwerkliche Kenntnisse erforderte. Polydesign hat Dekoration abgelöst: digitale, grafische Arbeit am Computer. Einen zweiten Schwerpunkt des Buchs legen wir auf das Posieren. Es gibt nur wenige Menschen wie Bob Steffen, über die eine so umfangreiche analoge Fotosammlung von frühester Kindheit an bis zu ihrem Lebensende besteht. Das Buch mit rund 200 Abbildungen wird gegen Ende 2017 erscheinen. Mal sehen, was danach kommt. Bald werde ich 70. Der Start eines jeden neuen Projekts erfordert viel Energie und Geduld. Manchmal möchte ich einfach nichts tun und geniessen.

Veronika Minder
Die Kunsthistorikerin Veronika Minder, 69, organisiert bereits während ihres Studiums in Bern Partys und Konzerte. Danach ist sie zunächst in der Musik- und Modebranche tätig, wird später Geschäftsleiterin von Kellerkino und Kino Cosmos in Bern. Als Mitinitiantin ruft sie mehrere Filmfestivals und Filmzyklen ins Leben, unter anderem die «FrauenFilmtage Schweiz», den Kinderfilmclub «Die Zauberlaterne» und das lesbisch-schwule Filmfestival «Queersicht». Bekanntheit erlangt Veronika Minder auch als Kuratorin von Ausstellungen wie «Bob, le Flaneur» (2015) oder «Sexarbeit» (2007), als Dramaturgin von «Wet Rock – Eine Seifenoper» (2007) sowie als Drehbuchautorin und Filmregisseurin von «My Generation» (2012) und dem mit mehreren Filmpreisen ausgezeichneten «Katzenball» (2005).