16.11.2017
TEXT: Nina BaikerFOTO: Shutterstock

Mikroorganismen gelten gemeinhin als Krankheitserreger, tatsächlich aber sind nicht einmal ein Prozent aller Viren und Bakterien für Krankheiten verantwortlich.

Statt Adam und Eva

«Viren stehen am Anfang des Lebens»

Speziellen Viren ist es zu verdanken, dass der Mensch keine Eier legen und ausbrüten muss – ein Evolutionsvorteil. Welch wichtige Rolle Viren für den Menschen und das Leben an sich spielen, erklärt die Virologin und Krebsforscherin Karin Mölling im Interview.

Die international renommierte Virologin und Krebsforscherin Karin Mölling gewährt in ihrem Buch «Supermacht des Lebens: Reisen in die erstaunliche Welt der Viren» Einblicke in die faszinierende Welt der Viren. Mikroorganismen, so auch Viren, gelten gemeinhin als Krankheitserreger, tatsächlich aber sind nicht einmal ein Prozent aller Viren und Bakterien für Krankheiten verantwortlich. Inwiefern Viren und andere Mikroorganismen für den Menschen und das Leben an sich unverzichtbar sind, erklärt die emeritierte Professorin in ihrem eindrucksvollen Buch. 

Viren sind wandlungsfähig und leben zumeist in friedlicher Koexistenz mit dem Wirt. Sogar im menschlichen Erbgut finden sich virale Spuren – fast 50 Prozent unseres Erbguts stammen ursprünglich von speziellen Viren ab, den Retroviren. Die Virologin und Aidsforscherin erklärt, was Viren sind und was sie im Körper tun. 

Was sind Viren?
Ein typisches Merkmal eines lebenden Organismus ist der Stoffwechsel. Durch diesen ist das «Lebewesen» fortwährend in Kontakt mit der Umwelt, um sich zu erhalten und zu Karin Möllingreproduzieren. Ein Virus hingegen verfügt nicht über einen eigenen Stoffwechsel. Für die Reproduktion ist es auf eine Wirtszelle angewiesen, in die es eindringt. So kann das Virus den Stoffwechsel seines Wirts den eigenen Bedürfnissen anpassen. Viren sind virtuose Alleskönner. Sie können Gene aufnehmen, abgeben, mutieren, transferieren und vervielfältigen. Viren sind auch Meister der Manipulation. Sie können die Zellen des Wirts so «umprogrammieren», dass diese neue Viren produzieren. Erfolgt die Vervielfältigung allerdings ungenau, so verändern sich die Zellen des Wirts. So entstehen Innovationen sowohl im Genom des Virus wie auch des Wirts. 

Viren haben ein schlechtes Image. Sie gelten als hinterhältig, böse und krankmachend …
Viren machen nicht nur krank! Sie sind genetisch gesehen die vielfältigste biologische Einheit unseres Planeten. Krankheiten wie Masern oder Aids werden von Viren ausgelöst. Auch die Pocken sind eine Viruskrankheit; daran starben in den vergangenen Jahrhunderten Millionen von Menschen. Viren gewinnen mehrheitlich dann Aufmerksamkeit, wenn sie Krankheiten verursachen. Daher kommt ihr schlechter Ruf. Allerdings machen die meisten Viren nicht krank – und deswegen wissen die meisten nichts von ihnen. Ich habe das Buch «Supermacht des Lebens» geschrieben, um zu zeigen, dass Viren mit dem Menschen mehrheitlich eine friedliche Koexistenz bilden. Das Virus kann nämlich ohne Wirt, zum Beispiel den Menschen, nicht überleben. Und umgekehrt braucht der Mensch Viren zum Überleben. Das eine hilft dem anderen, quasi ein Pingpongspiel. Krankheiten entstehen erst, wenn die Balance gestört wird. 

Welche Rolle spielen Viren im Kreislauf des Lebens? 
Es gibt mehr Viren als Sterne am Himmel, und sie sind überall, wo es Leben gibt. So spielen sie bei wirklich jeder der heutigen Lebensformen eine Rolle. Sie sind vielfältig; beispielsweise können Viren vor anderen Viren schützen. Wenn Viren eine Zelle besetzt haben, dann lassen sie andere Viren nicht hinein. Viren können aber auch neues Erbgut in die Zelle einbringen. Wenn sie keine Funktion mehr haben, dann verkümmern die Viren. Diese sind heute noch nachweisbar, und einige sind hundert Millionen Jahre alt. Viren sind die wohl ältesten biologischen Organismen und könnten – und dies ist entscheidend – gar der Ursprung des menschlichen Lebens gewesen sein. 

Verraten Viren etwas über unsere Entwicklung? 
Auf unserem Planeten sind Viren ganz sicher die Treiber der Evolution. Sie bringen ihre genetische Information in alles Mögliche ein. Sie infizieren ihre Umgebung und schleppen ihr Erbgut mit. So besteht die Hälfte unseres Erbguts aus mehr oder weniger verstümmelten Virengenen. Diese verkümmerten Viren bewegen sich von einer Zelle zur nächsten. In der Wirtszelle tun sie alles Mögliche: Viren können sich integrieren, vervielfältigen, auflösen oder verharren. Verharrende Herpesviren zum Beispiel verstecken sich – jahrelang unbemerkt – in den Nervenzellen. Viren sind die eigentlichen Erfinder der genetischen Mannigfaltigkeit und können unser Erbgut regelrecht aufwirbeln! Vielleicht sind alle Gene einst aus Viren entstanden. Mit dieser Vermutung gehe ich allerdings sehr weit, und sie wird auch nicht von allen Kollegen geteilt. 

In Ihrem Buch lautet ein Untertitel «Ein Meer voller Viren». Welche Bedeutung haben Viren für die Weltmeere?
In den Meeren gibt es unzählige Viren, nämlich etwa 1030, das ist eine Zahl von unvorstellbarer Grösse, eine Eins mit 30 Nullen. Eine Vorstellung dieser Menge erhält man durch den Blick zum Himmel – man schätzt die Anzahl der Sterne auf 1025. Mikroorganismen sind für die Rückführung von Nährstoffen der Biomasse entscheidend. In den Ozeanen wird der grösste Anteil der Biomasse durch Mikroorganismen rezykliert. Etwa 98 Prozent davon erzeugen Viren, die sich auf Bakterien als Wirt spezialisiert haben. Diese Viren, Phagen (griechisch phagein für fressen), vermehren sich in den Bakterien und zerstören dabei den Wirt je nach Umweltbedingungen. So werden jeden Tag 20 Prozent der gesamten Biomasse unseres Planeten von Bakterienviren aufgelöst, wodurch die Nährstoffe darin anderen Organismen, zum Beispiel Algen, als Nahrung dienen. 

Welche Rolle spielen Viren bei der menschlichen Ernährung, zum Beispiel bei Übergewicht?
Das ist eine weitgehende Frage, welcher ich in meinem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet habe. Jeder Organismus, jeder Mensch hat sein spezifisches und einmaliges Mikrobiom – seine mikroskopisch kleinen Mitbewohner: Viren, Pilze und vor allem Bakterien. Man kann einen Menschen anhand seines Mikrobioms identifizieren. Ohne Mikroorganismen könnten wir bestimmte Nahrungsmittel nicht spalten oder verdauen. Die Darmflora des Menschen bildet ein komplexes Ökosystem, welches sich idealerweise in einem Gleichgewicht befindet. In diesem Ökosystem findet sich ein bestimmter Virustyp: das Virus von Bakterien – eben die Phagen. Unser Darm ist voller Bakterien und Phagen. Sie befinden sich in einer friedlichen Koexistenz. Doch diese kann gestört werden. Hierbei ist mir Folgendes wichtig: Im Darm kann nun ein Virus eine Zelle oder eben auch ein Bakterium infizieren. Dieses wird dann sozusagen «gefressen» und geht zugrunde. Insgesamt ist dadurch das spezifische Gleichgewicht im Darm des Menschen zerstört. Genau das ist bei Übergewichtigen der Fall: Die Darmflora verliert an Vielfalt der Darmbakterien, und dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit für Fettleibigkeit. Ist das Mikrobiom im Darm zerstört, erholt sich die Darmflora nur sehr langsam. Dies könnte auch der Grund sein, warum Diäten oftmals nur kurzfristig erfolgreich sind. Die Dauer der Diät genügt dann nicht, um das Gleichgewicht und die Vielfalt der Darmflora – und damit einen gesunden Stoffwechsel – wiederherzustellen. 

Gibt es Viren, die gut für den Menschen sind?
Ja, unser Immunsystem wird von Viren und Bakterien beeinflusst. Sie können uns auch vor krankmachenden Keimen schützen. Wie erwähnt ist eine intakte Flora für uns sehr wichtig. Diese entsteht bereits bei der Geburt. Ein Neugeborenes, das durch den Geburtskanal zur Welt kommt, hat die Flora der Mutter. Hingegen erwerben Babys, die mit einem Kaiserschnitt geboren werden, das Mikrobiom der Haut der Mutter. Kinder, die durch einen Kaiserschnitt zur Welt kommen, sind durch Krankenhauskeime höher gefährdet. Sie haben eine geringere Vielfalt an Mikroorganismen. Untersuchungen belegen, dass solche Kinder später ein erhöhtes Risiko für Allergien und Asthma aufweisen. Die gesunde mütterliche Flora schützt gegen Keime. Im Grundsatz gilt: Die gewohnten Mikroorganismen, das heisst eben diejenigen der Mutter, schützen das Baby und später den Erwachsenen vor fremden Mikroorganismen.

Warum legen Frauen eigentlich keine Eier? 
Weil der Mensch durch ein «gutes» Virus zur Plazenta kam. Dieses spezielle Virus hatte sich vor etwa 40 bis 50 Millionen Jahren in der Gebärmutter der gemeinsamen Vorfahren aller Säugetiere eingenistet. Dadurch wurde deren Immunsystem sozusagen ausgeschaltet. Im Laufe der Evolution entwickelten die meisten Säugetiere dann eine Schutzschicht: die Plazenta. Der Embryo kann so ohne Gefahr einer Abstossung ausgetragen werden.  

Warum besteht denn die Gefahr einer Abstossung?
Ein Embryo hat jeweils zur Hälfte einen Vater- und Mutteranteil. Ohne die schützende Plazenta würde sich das Immunsystem der Mutter gegen alles Fremde, also auch gegen den Genanteil des Vaters, wenden. Der fremde Genanteil des Vaters würde abgewehrt und schliesslich abgestossen werden. In der Natur erfolgt dieser notwendige Schutz des Embryos auf unterschiedliche Arten. Ein Beispiel dafür sind Eier: Die schützende Schale trennt die beiden Kreisläufe von Mutter und Kind. Auch der Kängurubeutel dient dem Schutz des Jungtiers. Dieses krabbelt nach der Geburt selbständig vom Geburtskanal in den Beutel. Das spezielle Virus, das dem Menschen zur Plazenta verholfen hat, war aber auch verantwortlich für die grösste Viruskatastrophe, die Aidserkrankung. Grundsätzlich leben wir mit Viren, Bakterien und Pilzen in enger Gemeinschaft und bilden ein Ökosystem. Wir sind von mehr Mikroben besiedelt, als unser Körper Zellen hat: 1014 Mikroben stehen 1013 Zellen gegenüber. Das sind Zahlen mit 14 beziehungsweise 13 Nullen. Viren bringen ihre genetische Information in alles Mögliche ein, weshalb – wie bereits erwähnt – etwa die Hälfte unseres Erbguts aus mehr oder weniger verstümmelten Virengenen besteht.  

Der Mensch hat 22 000 Gene, wogegen die Banane über 36 000 Gene verfügt. Ist die Banane also höher entwickelt als der Mensch?
Gene sind Träger von Erbinformationen, die sich in jeder Zelle befinden. Ein Gen ist ein Abschnitt auf der DNA. Die DNA ist ein Makromolekül, in welchem die Informationen zur Entwicklung und Funktion des Lebewesens kodiert sind – oder einfach ein grosses Molekül, das den Bauplan für Proteine birgt. Anhand dieses Bauplans werden die Proteine produziert. Viele Strukturen im Menschen sind aus Proteinen: Enzyme, Hormone oder Zellen bestehen zum grössten Teil aus Proteinen. Der Mensch hat gar weniger Gene als beispielsweise Tulpen, Reis oder Amöben. Die meisten Pflanzen (50 000) haben mehr Gene als Säugetiere (25 000). Doch die Anzahl der Gene ist für die Komplexität eines Organismus irrelevant; dies zeigen die erwähnten Beispiele. Entscheidend ist die Anzahl der möglichen genetischen Kombinationen, und diese werden durch die Länge des DNA-Strangs bestimmt. Der Mensch hat die längste DNA pro Gen. Die Banane hat zwar mehr Gene als wir, jedoch sind diese DNA-Abschnitte kürzer und enthalten weniger Informationen. Die Fähigkeit zur Kombination ist der entscheidende Punkt für die Entstehung von Komplexität. 

Wir sind also doch etwas Besonderes. Woraus besteht denn unser Erbgut?
Besonders und einmalig sind unsere Gene keinesfalls. Unser Erbgut ist eine Mischung aus Genen unterschiedlicher Herkunft: Gene von Bakterien, Viren, Pilzen und Urbakterien. Dieses Potpourri haben wir durch Gentransfer aus diesen Organismen – beziehungsweise aus allen mit uns lebenden Mikroorganismen – erhalten. So sind etwa 10 bis 20 Prozent unserer Erbinformationen identisch mit denjenigen von Bakterien. Annähernd 50 Prozent unseres Genoms bestehen aus fossilen retroviralen Elementen. So sind der Gentransfer sowie verschiedene Infektionen im Laufe der Evolution für unser Genom verantwortlich. 

Sie haben 1987 den Aronson-Preis für herausragende Leistungen in der Mikrobiologie und Immunologie erhalten. Damit verbunden war die Auflage, dass das Preisgeld für ein Hobby ausgegeben wird. 
Davon habe ich mir eine zweimanualige Pfeifenorgel mit Pedal gekauft. Ich hatte ja damals schon einen Organistenschein und auch mal eine Organistenstelle. Nur das Üben in Kirchen gestaltet sich schwierig! Die Orgel ist das tollste Instrument – und es ist kompliziert. Ausserdem klingt eine Orgel gleich wie ein gesamtes Orchester. Mich haben eigentlich immer komplizierte Dinge interessiert.

Spielen Sie also regelmässig?
Als ich nach Zürich kam, sagte man mir: «Vergessen Sie Ihre Hobbys! Hier hat der Tag schon nicht genug Stunden, damit Sie Ihre Arbeit machen können. Seien Sie froh, wenn Sie genug Schlaf bekommen.» Das stimmte, und das bedaure ich, denn ich habe seit etwa 15 Jahren keine Orgel mehr angerührt. Aber jetzt habe ich Zeit. Alle drei Tage bin ich in einer speziellen Kirche in Zürich, um zu üben. Ich spiele saumässig schlecht, trotz meiner Ausbildung, weil ich so lange pausiert habe. Das ist ein Jammer.

Prof. em. Prof. h.c. Dr. rer. nat. Karin Mölling
Die Physikerin und Molekularbiologin Karin Mölling, geb. 1943, ist eine der weltweit führenden Virologinnen und Aidsforscherinnen. Sie war Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Universität Zürich (1993–2008). Am Kantonsspital in Zürich leitete sie zusätzlich die Virusdiagnostik. Karin Mölling entwickelte einen neuen Aidstherapieansatz, bei welchem sich das Aidsvirus HIV selber «umbringt». Diese Therapie war eine medizinische Sensation, für welche sie 2007 den Swiss Award erhielt. Dieser wird herausragenden Schweizer Persönlichkeiten verliehen. Karin Mölling wurde 2008 emeritiert und war danach bis 2011 Gruppenleiterin an der Universität Zürich und am Max-Planck-Institut in Berlin. Derzeit arbeitet und forscht sie an der Universität Zürich und am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin.

Karin Mölling veröffentlichte über 250 wissenschaftliche Arbeiten und 2014 das Buch «Supermacht des Lebens: Reisen in die erstaunliche Welt der Viren». Sie hat es als Neuauflage auch ins Englische übersetzt: «Viruses, More Friends Than Foes».

Die Autorin plädiert für eine ausgewogenere Sichtweise auf Viren und erläutert deren Bandbreite an Aktivitäten. Viren sind auch für das Immunsystem und die Evolution des Menschen verantwortlich und bekämpfen antibiotikaresistente Bakterien.