02.03.2017
FOTOS UND TEXT: Melanie Haas

Für die Entwicklung neuer Verpackungen testet Christine Brombach die Kraft in der Hand.

Food-Trends

«Diese Diskussion ist eine Luxusdebatte»

Von veganer Ernährung über Superfoods bis hin zu Suppe to go – Food-Trends sind in aller Munde. Die Ernährungswissenschaftlerin Christine Brombach erklärt, woher diese kommen und wie wir uns in Zukunft ernähren werden.

Frau Brombach, ab Mai ist es in der Schweiz legal, Insekten zum Verzehr zu verkaufen, und verschiedene Anbieter und Restaurants stehen schon in den Startlöchern. Wird diese Ernährungsform ein neuer Trend?
Insekten werden wir erst einmal nicht grossartig in unsere Esskultur einbinden. Es gibt viele Menschen auf der Welt, die Insekten essen, dazu gehört Mitteleuropa aber nicht. Wahrscheinlich wird es Überlegungen geben, diese als Tierfutter einzusetzen, was indirekt zur menschlichen Versorgung beitragen kann.

      
«Essen kann identitätsstiftend sein oder die Rolle eines Religionsersatzes
einnehmen.»
    

Heute spriesst fast täglich ein neuer Food-Trend aus dem Boden, und wir werden von immer neuen hippen Ernährungsformen überschwemmt. Aktuell sind zum Beispiel angesagt: Algen und Seegras, schwarz eingefärbte Gerichte oder das Wildgemüse, das heisst alles, was die Natur hergibt und wir einsammeln können. Warum ist das zur heutigen Zeit so extrem?
Bei dieser Entwicklung spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Seit 2007, nach Einführung des iPhones, lässt sich ein starker Anstieg der Internet- und Social-Media-Nutzung feststellen. Die ersten Food-Blogs und Food-Porns – anregende Fotografien von schön angerichtetem Essen – entstanden, und immer mehr Menschen teilten Bilder und Esserfahrungen über die sozialen Medien. Gespeist dadurch, dass wir in einer säkular geprägten Welt leben und wählen können, welche Sinnhaftigkeit wir haben, kann Essen identitätsstiftend sein oder die Rolle eines Religionsersatzes einnehmen.

Essen ist also ein echter Lifestyle. Wir drücken darüber aus, was uns wichtig ist, und definieren uns immer mehr über unsere Ernährung.
Genau. Über die Ernährung können wir uns ausdrücken, optimieren und auch positionieren. Zum Beispiel werden sich selten Paare finden, bei denen ein Partner Veganer und der andere Omnivor ist, da sie ein unterschiedliches Wertegefüge haben. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppierung macht das Ganze somit auch zu einer Werte-Norm-Debatte. Und wir können ausdrücken, dass wir uns auskennen oder besonders gut sind, wenn wir zum Beispiel mit unserer Ernährungsweise auf das Tierwohl achten. Zudem wird die Nahrungsproduktion immer intransparenter. Konsumenten können nicht mehr erkennen, woher Lebensmittel stammen, und haben keine Kontrolle darüber, was entlang des Herstellungsprozesses passiert. Das schafft Unsicherheit. So stellen Food-Trends nicht nur eine Sinnsuche dar, sondern sind auch Ausdruck von Verunsicherung, weil Konsumenten das Gefühl haben, zunehmend die Kontrolle zu verlieren, was mit ihren Lebensmitteln und damit mit ihrem Körper passiert. Ein Trend kann somit Einflussnahme versprechen, wie dies etwa der Fall ist, wenn man sich vermehrt mit regionalen und lokalen Lebensmitteln ernährt.

Woher kommen Food-Trends eigentlich?
Häufig entstehen Trends aus Nischenbewegungen. Eine Gruppe Menschen fühlt sich zum Beispiel mit industriell verarbeiteten Lebensmitteln unwohl und sucht nach Alternativen. Diese Gruppierungen sind oft im urbanen, gebildeten Bereich angesiedelt. Ihre Ernährungsform oder Einstellung zum Essen verbreiten sie dann verstärkt über die sozialen Medien. Sie möchten ihre Erkenntnisse und Erfahrungen mit anderen teilen, und wer dabei am lautesten schreit, macht sich bemerkbar. So entsteht der Eindruck eines Trends, der die Allgemeinheit umfasst. Meistens ist es aber so, dass nur bestimmte Menschen oder Gruppierungen einem Trend folgen.

Gab es auch schon früher Trends?
Sicher gab es auch schon früher Trends. Momentan beobachten wir aber eine Vielfalt an Angeboten und Lebensentwürfen – eine Multioptionalität des Essens. Diese Entwicklung passierte vor allem in den letzten 15 bis 20 Jahren und wird durch die Digitalisierung verstärkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte auch in Europa eine Nahrungsmittelknappheit, und die Frage war eher, ob es überhaupt etwas zu essen gibt, und nicht was. Heute fragen wir uns verstärkt: Was ist das für ein Essen, und was sagt es über mich aus? Jetzt können wir es uns hierzulande leisten, über Food-Trends nachzudenken und zu sprechen. Generell ist das eine Luxusdebatte, und man darf nicht vergessen, dass rund ein Viertel der Menschheit unterversorgt ist. Dort stellen sich diese Fragen gewiss nicht, und man kann auch nicht wählen, ob man sich vegetarisch, vegan, laktose- oder glutenfrei ernährt.

Welche Rolle spielt der Gesundheitsaspekt bei der Entwicklung von neuen Trends?
Die Suche nach Gesundheit, nach Möglichkeiten, länger zu leben, beschäftigt uns seit Anbeginn der Menschheit. Somit ist dieser Aspekt nicht zu vernachlässigen. Neben der Gesundheit wird unsere Ernährung aber auch von anderen Faktoren beeinflusst. Nehmen wir zum Beispiel den Vegetarismus. Werden Vegetarier gefragt, weshalb sie sich fleischlos ernähren, geben sie häufig ethische oder ökologische Gründe an. Bei einer Untersuchung in Deutschland mit älteren Vegetariern, die schon mindestens 20 bis 30 Jahre vegetarisch lebten, standen hingegen die gesundheitlichen Aspekte im Vordergrund.

    
«Der Begriff ‹Superfood› klingt superspannend.»
     

Apropos Gesundheit: Sind sogenannte Superfoods wie Chiasamen, die Frucht des afrikanischen Affenbrotbaums, Baobab, sowie Acai- oder Goji-Beeren wirklich so super oder nur eine Modeerscheinung mit geschickter Marketingstrategie?
Sie sind beides: Superfoods sind per Definition Lebensmittel, die über das normale Mass hinaus besonders viele und nachweislich wirksame, gesundheitsfördernde Substanzen enthalten. Bei einer ganzen Reihe von Superfoods steckt aber auch geschicktes Marketing dahinter. Nehmen wir Chiasamen und Leinsamen. Letztere sind ein sehr hochwertiges Lebensmittel, das vergleichbare Effekte erzielen kann wie Chiasamen. Jedoch greifen viele zu den exotischeren Chiasamen.

Warum – wo doch Leinsamen denselben Effekt haben und auch noch günstiger sind?
Das stimmt. Jedoch klingt der Begriff «Superfood» superspannend. Wenige würden sich davon angesprochen fühlen, wenn ihnen gesagt wird, sie sollen doch Grünkohl essen – ein regionales Superfood. Betitelt man Grünkohl aber mit dem englischen Wort «Kale», wird er plötzlich interessant. Auch in der Schweiz gibt es regionale Alternativen wie Preisel- und Heidelbeeren, Walnüsse, verschiedene Kohl- oder Rübenarten oder Wildgemüse. Diese hätten wir wahrscheinlich nie mit einer besonderen Funktionalität verbunden, da diese Lebensmittel eben nicht mit «Superfood» betitelt werden. Hierbei ist die Kraft der Suggestion nicht zu unterschätzen. Namensgebung und Herkunft machen viel aus, denn je exotischer etwas klingt, desto besser muss es wirken. Wir Konsumenten reagieren auf klangvolle Namen und spannende Begriffe, und wir kaufen Lebensmittel, um deren aussergewöhnliche Eigenschaften mit uns zu verbinden, uns damit zu identifizieren. Deshalb sind Trends auch etwas, was sich gut verkauft.

Was lösen Food-Trends bei uns aus?
Einige Trends, wie zum Beispiel die Fermentationswelle, sind eigentlich nicht neu. Früher haben wir Sauerkraut eingekocht, um es haltbar zu machen. Heute wird auch anderes Gemüse fermentiert, um den Geschmack und die Textur zu verändern. Deshalb erzeugen manche Trends bei einigen Menschen Erstaunen, dass alte Verfahrensweisen oder Zutaten wieder entdeckt werden. Andererseits machen sie neugierig und regen dazu an, Neues auszuprobieren. Und da wir nicht altmodisch daherkommen wollen, sind wir so anfällig für neue Trends.

Wie hat sich unser Bewusstsein für Essen in den letzten Jahren verändert, und wie wird es sich noch verändern?
Untersuchungen in Deutschland zeigen, dass sich rund ein Drittel der Menschen überhaupt nicht für die Ernährung interessiert und sich nur ein Drittel sehr stark mit diesem Thema befasst. Im Bereich der Bildung hat sich in den letzten Jahren viel getan. Schon im Kindergarten und in der Schule ist Ernährung mittlerweile Teil des Unterrichts. Das Bewusstsein, dass man mit der Ernährung auf den eigenen Körper Einfluss nehmen kann, hat inzwischen jeden erreicht. Was der Einzelne daraus macht, ist eine andere Frage.

Eine kleine Zukunftsprognose: Werden wir uns nur noch von Pülverli und künstlich hergestelltem Essen ernähren, oder wie sieht die kommende Entwicklung aus?
Bestimmte Entwicklungslinien werden bleiben. Dazu gehört, weniger Fleisch zu essen oder Proteine aus anderen Rohstoffen zu gewinnen, wie zum Beispiel aus Leguminosen, Insekten oder marinen Quellen. Alles muss aber ökonomisch umsetzbar bleiben, um sich durchsetzen zu können. Wir werden uns eher nicht von Pülverli und Ähnlichem ernähren, denn wir brauchen bestimmte Strukturen von Nährstoffen, die man nicht in einem Pulver oder in Pillen verstecken kann. Aufgrund der wachsenden Bevölkerung und der schrumpfenden Ressourcen müssen wir aber Alternativen entwickeln, da Lebensmittel immer teurer werden und es neue Verteilungskämpfe geben wird, um alle Menschen satt zu bekommen. Solche Entwicklungen befeuern natürlich auch Trends.

Tipps_fuer_eine_gesunde_Ernaehrung

Fünf Tipps für eine gesunde, nachhaltige und ausgewogene Ernährung. Video: Melanie Haas

Christine Brombach hat in Deutschland an der Universität Giessen Ökotrophologie studiert. Dieser interdisziplinäre Studiengang der Haushalts- und Ernährungswissenschaften verbindet natur- mit sozialwissenschaftlichen Aspekten – beides wesentliche Punkte beim Essen und Trinken. Das Interesse der Professorin an der Ernährung wurde befeuert durch einige Auslandsaufenthalte, unter anderem in einem Indianerreservat. Heute forscht Christine Brombach an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Am Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation leitet sie die Fachstelle für Ernährung und Consumer Science, wo sie Lebensmitteltechnologen ausbildet. Ihr Forschungsbereich liegt vor allem im Ernährungsverhalten, und sie beschäftigt sich unter anderem mit Gesundheit, der Zusammensetzung von Lebensmitteln sowie sozialen und kulturellen Aspekten von Essen und Trinken im Alltag.