27.10.2015
FOTO UND TEXT: Caspar Türler
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Zukunftsforscher Joël Cachelin hofft auf die kreative Symbiose von Mensch und Maschine.

Mensch-Roboter-Arbeit

«Wir brauchen ein Gesellschafts-Update»

Im Buch «Offliner» analysiert Zukunftsforscher Joël Cachelin Widerstände gegen die Digitalisierung unseres (Berufs-)Lebens. Welche Gefahren und Chancen birgt die algorithmusbasierte Wirtschaft, und wie werden wir mit Robotern zusammenleben? Der arbeitsmarkt traf den Zukunftsforscher im Museum für Kommunikation in Bern.

Joël Cachelin, ist «Offliner» ein Sammelbegriff für digitale Aussteiger?
Nein, keineswegs. Ich verstehe darunter nicht «Nonliner», also Menschen, die überhaupt nicht im Internet unterwegs sind. «Offliner» sind sehr wohl digital aktiv, denn sie wollen die Zukunft mitgestalten. Je mehr unser Leben aber von Internet-Grosskonzernen, automatisierten Fabriken und Algorithmen bestimmt wird, desto mehr regt sich Widerstand. Das reicht von Globalisierungskritikern und Kulturpessimisten bis hin zu Entschleunigern. Viele Menschen sehen neben den Möglichkeiten der Digitalisierung auch Gefahren wie Abhängigkeit, Gleichschaltung der Information und Arbeitslosigkeit.

Haben wir in Zukunft überhaupt Arbeit?
Wahrscheinlich schon, wenn wir unsere kreativen Stärken und die Chancen der Digitalisierung nutzen. Maschinen machen viele Arbeitsschritte schneller und billiger. Sie nehmen uns repetitive, physische Arbeit ab. Menschliche Arbeit wird deshalb zunehmend entmaterialisiert, vor allem mit Bildschirmarbeit. Schnelligkeit und Vernetzung sind Erfolgsfaktoren der Zukunft, aber auch Kreativität. Dazu müssen wir den Mut haben, Arbeitsschritte nicht mehr zwangsläufig an einem Ort und zu einer Zeit zu erledigen. Kreativität und Leistungsbereitschaft lassen sich nicht befehlen. Darum hat das ‹9 to 5›- Arbeitsmodell ausgedient.

Braucht es dafür auch ein neues Führungsverständnis?
Ja. Derzeit diskutieren viele Arbeitgeber über das Für und Wider von Home Office. Dabei ist ein befürchteter «Missbrauch» der entstehenden Freiheiten bisweilen sinnvoll. Keiner will Mitarbeitende mit Burnout, weil sie auch zuhause pausenlos an der Arbeit sind. Andererseits lassen sich Kreativität und Innovation kaum befehlen. Vielleicht hat jemand die beste Idee spät nachts am Küchentisch. Damit erbringt er oder sie unter Umständen in zwei Sekunden eine Wertschöpfung, die ein anderer in Monaten nicht erbringt.
Die immaterielle Arbeit birgt aber zwei grosse Probleme: Sie ist einerseits unsichtbar und andererseits endlos. Der physische und mentale Ausgleich wird deshalb immer wichtiger. Der Arbeitnehmer muss auch mal weg vom PC, Sport treiben oder einen Garten pflegen, wo er das Wetter spürt und Resultate sieht. Die Jahresarbeitszeit ist deshalb ein guter Weg zu mehr Flexibilität und Arbeitsleistung dann, wenn sie individuell am höchsten ist.

«Kreativität und Leistungsbereitschaft lassen sich nicht befehlen. Darum hat das ‹9 to 5›- Arbeitsmodell ausgedient.»

Was sagen Sie zur Idee des Grundeinkommens?
Ich befürworte das Grundeinkommen und glaube, dass es langfristig keine Alternative gibt. Mit der Befreiung von ökonomischen Zwängen ist es zudem möglich, Energien freizusetzen und unsere Lebensqualität durch neue Freiheiten zu erhöhen.
Doch das bedeutet einen massiven Markteingriff, der auch Arbeitsplätze kosten könnte und momentan nicht mehrheitsfähig ist. Die technologische Entwicklung und die wirtschaftliche Dynamik der letzten Jahrzehnte haben uns überrumpelt und passen nicht mehr zu den gewachsenen Strukturen. Heute leben wir in einem Gesellschaftssystem, das nicht zum Internetzeitalter passt. Wir brauchen deshalb ein «Update» der Art und Weise, wie wir als Gesellschaft funktionieren.

Was verstehen Sie unter «Gesellschafts-Update»?
Zum einen brauchen wir eine Reform der Sozialversicherungen. Sie passen in ihrer Konstruktion nicht mehr zur modernen Arbeitswelt. Zudem verlangt eine digitale Gesellschaft eine reibungslose Logistik von Menschen, Gütern und Informationen. Das setzt ein überall sehr gut funktionierendes Internet und eine hervorragende Infrastruktur voraus. Zudem brauchen wir Steuerreformen und eine Modernisierung unseres Bildungssystems, das nach wie vor im Industriezeitalter verhaftet ist.

Das bedeutet auch mehr digitale Diversität?
Genau. Ich finde es falsch, die Leitplanken einzig wenigen einflussreichen Gruppierungen und Konzernen zu überlassen. Doch ob Player wie Google oder Apple «böse» sind, das ist für mich nicht so klar. Die Frage ist immer, wer diese Konzerne steuert - unsere Pensionskassen sind hier oft wichtige Investoren. Da kann man sich selber überlegen, ob man in Zukunft lieber zwei oder vier Prozent Rente haben will. Konkret wünsche ich mir eine Gesellschaft, in der es möglich ist, sowohl online als auch offline zu leben. Das setzt eine mutige Auseinandersetzung mit den neuen Möglichkeiten und Risiken voraus. Wir sollten weniger reagieren und wieder mehr partizipieren und antizipieren.

«Unsere gesellschaftliche Diversität muss zunehmen. Es soll möglich sein, sowohl sehr digital als auch sehr analog zu leben.»

Apropos antizipieren: Wie sieht die Mensch-Roboter-Gesellschaft aus?
Der Mensch ist neugierig und versucht seit jeher, sein Leben mittels Technologie einfacher und intensiver zu machen. Im Idealfall werden wir mit den Maschinen eine Symbiose bilden, in der wir die spezifischen Vorteile von Menschen und Maschinen nutzen. Roboter müssen nicht zwingend menschenähnlich aussehen - ich denke auch an intelligente Kühlschränke oder die heutigen Smartphones.
Künstliche Intelligenz ist ja schon heute weit verbreitet, zum Beispiel mit den natürlich antwortenden, virtuellen Assistenten. Wir werden im Alltag künftig noch mehr intelligente Maschinen nutzen und uns auch in Maschinen verlieben. Da wird einiges auf uns zukommen. Doch auch Ängste sind berechtigt: Digitale Lebewesen werden teilweise dieselben Ressourcen brauchen wie wir. Das könnte zu Auseinandersetzungen führen. 

Das klingt, als ob sich der Mensch selber abschaffen will.
Wir schaffen uns nicht ab, wir arbeiten an unserer Zukunft. Mit der künstlichen Intelligenz entwickeln wir uns weiter: Technologie ist die logische Weiterführung der Evolution. Doch wir müssen dabei nicht aussterben. Ich glaube an eine symbiotische Koexistenz. Der Mensch aus Fleisch und Blut ist eine Zwischenstation – es gab Wesen vor ihm, und es wird Wesen nach ihm geben. Wir werden nicht das letzte oder höchstentwickelte Geschöpf auf Erden sein.

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Foto: Carlos Meyer / KOLT

Zur Person
Der 1981 geborene Joël-Luc Cachelin hat an der Hochschule St. Gallen doktoriert, an zwei Instituten gearbeitet und betreibt seit 2009 als Gründer und Geschäftsführer des Thinktanks «Wissensfabrik» unabhängige Zukunftsforschung. Er hat zahlreiche Studien und Sachbücher zur digitalen Gesellschaft veröffentlicht. Unter dem Titel «Internetgott» schreibt er zurzeit an einer Neuinterpretation von Metaphysik und Glauben im Zeitalter der Digitalisierung.