04.01.2016
FOTOS UND TEXT: Nora Dämpfle
Fachärztin für Rechtsmedizin Rosita Martinez

«Mehr kriminalistisches Wissen im Gesundheitswesen ist für alle Beteiligten ein Gewinn», davon ist die Fachärztin für Rechtsmedizin, Rosita Martinez überzeugt.

Rechtsmedizin im Gesundheitssystem

«Die Pflegefachleute müssen einen forensischen Blick entwickeln»

Seit Herbst 2015 werden in Zürich Pflegefachkräfte kriminalistisch weitergebildet. Bei der Erstbetreuung von Gewaltopfern sollen die «Forensic Nurses» Spuren sichern und dokumentieren. Warum diese «Bindeglieder» zwischen Rechtssystem und Gesundheitswesen wichtig sind, erklärt die Co-Leiterin des Studiengangs, Rosa Maria Martinez.

Rosa Maria Martinez, die Weiterbildung «Forensic Nursing» soll Pflegefachkräften auf den Umgang mit Opfern von Gewaltverbrechen vorbereiten. Warum ist dafür ein Lehrgang nötig?
Die übergeordneten Ziele sind die Erkennung von Gewaltbetroffenen, die gerichtsverwertbare Dokumentation von Verletzungen und die Spurensicherung. Um eine Brücke zwischen Rechtssystem und Medizin zu schlagen, braucht es Fachkräfte, die Kenntnisse der beiden Bereiche mitbringen. Oft sind Pflegefachleute die Ersten, die mit Opfern in Kontakt kommen und Spuren sichern können. Auch können solche Personen durch ihre psychologischen Kompetenzen dazu beitragen, dass Opfer von Gewalttaten diese eher zur Anzeige bringen. Dafür müssen die Pflegefachpersonen sich Fähigkeiten aneignen, die weit über ihre pflegerische Tätigkeit hinausgehen. Zentral ist dabei, dass sie über forensisches Wissen verfügen. 

Was heisst das konkret?
Die Teilnehmer lernen zum Beispiel verschiedene Verletzungsarten kennen und zuordnen. So sollen sie in der Lage sein, zu beurteilen, ob die Schilderungen des Opfers zum Unfall- oder Tathergang realistisch sind. Der Klassiker ist etwa, dass eine Frau behauptet, sie sei die Treppe hinuntergefallen. Wenn dem so ist, gibt es typische Verletzungsmuster. Manche Wunden sind hingegen schlicht nicht durch einen Treppensturz zu erklären. Das Wissen über Verletzungen und wie sie entstehen können, ist grundlegend. Ebenso wie die Untersuchungstechnik: Viele Anfänger vergessen, die Kopfhaut anzuschauen oder den Achselbereich. Viele Aspekte spielen bei einer sauberen Dokumentation eine Rolle. 

Das Certificate of Advanced Studies in Forensic Nursing

Der Studiengang beginnt jährlich im Herbst und dauert rund ein Jahr (12 Kurstage). Er richtet sich in erster Linie an Pflegefachpersonen mit Hochschulabschluss auf Masterstufe und an Personen mit einem Hochschulbachelor in Pflegewissenschaften. 20 Studienplätze werden pro Fortbildung angeboten. Dozierende sind Spezialisten aus der Praxis und Fachleute aus dem universitären Umfeld. Die Weiterbildung findet im Zentrum für Weiterbildung der Universität Zürich statt und kostet 4900 Franken.

Warum ist diese Dokumentation so wichtig? 
Kommt eine Tat vor Gericht, ist die Erstdokumentation eventuell relevant für das Verfahren. Die Teilnehmer sollen lernen, bei ihrer Arbeit immer die Frage «Was interessiert den Staatsanwalt?» im Hinterkopf zu haben. Darum eignen sie sich neben forensischen Methoden und psychologischen Kompetenzen auch Kenntnisse über die relevanten Bereiche der Polizeiarbeit und die rechtlichen Grundlagen an. Im Arbeitsalltag einer Forensic Nurse spielen Details oft eine grosse Rolle.

Zum Beispiel?

Die Formulierung «schwere Verletzung» im Vergleich zu «Verletzung» kann bei der juristischen Kategorisierung einer Tat und damit beim Strafmass eine Rolle spielen. Die angehenden forensischen Pflegefachkräfte lernen darum, welche Formulierungen für welchen Sachverhalt angebracht sind und was sie in einem Verfahren für Auswirkungen haben können.

Kit für Spurensicherung nach einer Vergewaltigung
Solche Koffer werden heute schon in Spitälern eingesetzt. Sie enthalten alles, was für eine Spurensicherung nach einer Vergewaltigung gebraucht wird.

Die ersten Forensic Nurses werden etwa in einem Jahr ihre Ausbildung abschliessen. Wird heute schon in Spitälern forensisch gearbeitet?
Natürlich besteht grosses Ausbaupotenzial in diesem Bereich. Forensic Nurses sollen ja idealerweise nicht nur in Spitälern, sondern zum Beispiel auch in Seniorenheimen präsent sein. Bereits heute wird in vielen Spitälern teilweise mit forensischen Methoden gearbeitet. Das Universitätsspital Zürich etwa hat von uns zusammengestellte Kits, die alle nötigen Utensilien zur Dokumentation nach einer Vergewaltigung enthalten. In diesen Koffern ist eine Anleitung, die auch Ungeübten eine sinnvolle Erfassung ermöglicht. Kommt ein solches Kit zum Einsatz, wird es anschliessend bei uns in der Rechtsmedizin ein Jahr lang aufbewahrt. Immer wieder fassen Opfer erst später den Entschluss, eine Vergewaltigung anzuzeigen, und wir können dann die gesicherten Spuren für das Verfahren liefern.

Die forensische Arbeit hält also verstärkt Einzug ins Gesundheitswesen?
Ja, und wenn es nach uns Rechtsmedizinern geht, ist das richtig und wichtig. Wir wünschen uns mittelfristig, dass jedes Spital über eine forensische Ambulanz verfügt. Dieser Raum würde mit allen nötigen Utensilien für die forensische Erstabklärung von Gewaltverbrechen ausgerüstet sein. Das würde auch die Arbeit der Forensic Nurses vereinfachen.

Dr. Rosita Martinez, Fachärztin für Rechtsmedizin

Rosa Maria Martinez, 37, ist Fachärztin für Rechtsmedizin, Co-Bereichsleiterin der klinischen Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmediniz in Zürich und Co-Leiterin des berufsbegleitenden Studiengangs «Forensic Nursing».