26.05.2016
FOTOS UND TEXT: Fredy Stäheli

Seit sieben Jahren forscht die Literaturwissenschaftlerin Hildegard Keller zu Leben und Werk der nach Südamerika ausgewanderten Alfonsina Storni.

Biografie schreiben

«Diese Begegnung gab meinem Leben neue Impulse»

Hildegard Keller ist Germanistin und Hispanistin. Sie lehrt in Amerika und der Schweiz. Aktuell schreibt sie an der Biografie einer Schweizerin, die nach Südamerika auswanderte und in den 1920er-Jahren zur literarischen Leitfigur Argentiniens aufstieg. Im Interview erläutert die Professorin, weshalb sie selbst neue Wege beschreitet.

Als alleinerziehende ledige Berufsfrau setzte sich die nach Südamerika ausgewanderte Alfonsina Storni über praktisch alle Konventionen hinweg. Sind Sie ein ebenso freier, unabhängiger Geist?
Es gibt Parallelen, auch wenn die Lebenssphären ganz andere sind. Ein Wesensmerkmal von Alfonsina Storni ist, dass sie sich in ihren Vorhaben nicht bremsen liess, auch wenn das Umfeld diesen nicht wirklich freundlich gesinnt war. In ihren Ideen und Vorstellungen war sie sehr modern und radikal, aber diese Modernität war für sie ein Gebot des 20. Jahrhunderts. Deshalb blieb sie ihr treu. Der Ruf nach Innovation lässt sich aufs 21. Jahrhundert übertragen. In der akademischen Welt erlebe ich eine immense Spezialisierung und Selbstbeschränkung. Das Funktionssystem, auch der Geisteswissenschaften, baut auf Analyse und Faktenbindung. Wer kreativ und künstlerisch arbeiten will, stösst an Gartenzäune – sogar in der Lehre.

Wie die Beschäftigung mit Alfonsina Storni, aber auch andere interdisziplinäre und multimediale Projekte zeigen, haben Sie sich nicht bremsen lassen.
Ja, in der Arbeit mit Alfonsina Storni spüre ich auch noch nach sieben Jahren eine besondere Kraft. Eine Art Lebensverheissung, die für sie in der künstlerischen Arbeit lag. Natürlich gibt jede Beschränkung, also auch die in der Wissenschaft geforderte Spezialisierung, Sicherheit und Akzeptanz. Im Rückblick erkenne ich, dass ich oft über Autorinnen und Denker gearbeitet habe, denen Transformation am Herzen lag. Diese Arbeit hat auch mir Mut gemacht, immer wieder weiterzugehen und Neues auszuprobieren. Vitalität und Freiheit sind nicht ganz gratis. Und auf Beifall sollte man auch nicht gerade warten.

Die Schriftstellerin Alfonsina Storni
Am 29. Mai 1892 kommt Alfonsina Storni im Tessiner Dorf Sala Capriasca zur Welt. 1896 wandert die Familie nach Argentinien aus. Im Jahr 1912 zieht sie nach Buenos Aires, wo sie ihren Sohn Alejandro gebiert. 1916 erscheint ihr erster Gedichtband «La inquietud del rosal» (Die Unruhe des Rosenstocks). Sie verkehrt in den literarischen Kreisen der argentinischen Hauptstadt und ist auch als Journalistin, Dozentin und Theaterautorin tätig. In der Morgendämmerung des 25. Oktobers 1938 wirft sich die unheilbar an Krebs Erkrankte in Mar del Plata von einer Mole ins Meer. Vorher schreibt sie ihr letztes Gedicht. Diese Geste des bewussten Abschieds bezeichnet Hildegard Keller als einzigartig in der Geschichte der Literatur: «Mir ist nichts Vergleichbares bekannt.»

Gedicht_Voy_a_dormir_von_Alfonsina_Storni

Das Gedicht «Voy a dormir» verfasst Alfonsina Storni kurz bevor sie sich das Leben nimmt. Sie schreibt es und schickt es der Zeitung «La Nación». Das Gedicht im Original gelesen und übersetzt von Hildegard Keller. Video: Fredy Stäheli

Wie überträgt sich dies auf Ihre Rolle als Dozentin?
Wichtig ist für mich, dass meine Studenten die Lebensenergie in den Werken vergangener Zeiten spüren. Dass es zu einem Dialog zwischen damals und heute kommt – und zwar in den Studierenden selbst. Faszinierend, was geschieht, wenn sie ein kreatives Projekt verfolgen dürfen. Sie entdecken dann nicht nur ein Wissensgebiet, sondern Dinge in sich selbst, von denen sie gar nichts wussten. Das ist überraschend für alle Beteiligten und stärkt ihr Selbstbewusstsein. Könnte ich jungen Menschen etwas Besseres mitgeben?

Wo findet das konkret statt?
Ein Beispiel: Im Frühlingssemester 2016 verknüpfte ich die Lehre in Bloomington mit unserer Ausstellung «The Performative Book» in der Lilly Library. Diese Ausstellung habe ich mit einer Kollegin kuratiert. In einem Teil ging es um die Frage, wie Medien des 16. Jahrhunderts den neuen Kontinent Amerika in die Köpfe der Europäer zauberten, also gedruckte Bücher, Karten und Grafiken des 16. Jahrhunderts. Unter den deutschen Südamerikafahrern, deren Werke wir ausstellten, waren spannende Figuren wie der Landsknecht Hans Staden und der Naturforscher Prinz Maximilian Wied zu Neuwied, beides Brasilienreisende. Letzterer war später in Nordamerika mit dem Schweizer Maler und Zeichner Karl Bodmer unterwegs. Um diese Figuren herum haben die Studenten Audiobeiträge erstellt, in denen sie sich gleichzeitig Wissen erarbeiten und ihrer Kreativität freien Lauf lassen konnten. So kamen auch Zeitreisen vor. Einige waren vom Hörspielmachen richtig gepackt.

Welche Überlegungen stehen dahinter?
Die Universitäten müssen sich auf zukünftige Generationen einstellen. In den USA, wo Universitäten marktbewusster operieren, wächst das Interesse an neuen Medien für wissenschaftliche Arbeit, auch an neuen Formen zur Präsentation wissenschaftlicher Arbeit, beispielsweise Film. Das sind kostbare Chancen, auch zur Revitalisierung des Wissenschaftsbetriebs. In meiner eigenen Arbeit verbindet sich heute klassische wissenschaftliche Arbeit mit kreativen und künstlerischen Dimensionen.

Zurück zu Alfonsina Storni. Wie sind Sie auf sie gestossen?
Ich habe immer noch das Gefühl, sie habe mich gefunden. Und auch ein wenig gerufen. Anfang der 1990er-Jahre hörte ich zum ersten Mal Gedichte von ihr, in Zürich in einer Reihe mit Musik und Gedichten. Das brachte meine lateinamerikanische Ader zum Pulsieren. Im Programmheft las ich dann, dass die Argentinierin eigentlich Tessinerin war.

Wie ging es weiter?Buchauswahl zu Alfonsina Storni
Immer wenn ich in Spanien war, kaufte ich die jeweiligen Neuerscheinungen. So ging das über die Jahre, und Alfonsina Storni hatte ihren festen Platz in meinem Büchergestell. Aber halt nicht mehr als das, weil mich ein grosses Nationalfondsprojekt rund um den Zürcher Chirurgen, Hebammenprüfer und Theatermacher Jakob Ruf voll und ganz in Anspruch nahm. Erst nach dem Erscheinen von «Jakob Ruf – Leben, Werk und Studien» und meiner Berufung nach Bloomington gönnte ich mir ein wenig Ferien von der Germanistik, vom Mittelalter und von der deutschen Sprache. Da hatte ich ein offenes Ohr für Alfonsinas Ruf. Bald wurde mir klar, dass das Wenige, was von Storni bekannt ist, nämlich ein kleiner Teil ihrer Lyrik, nur die Spitze eines Eisbergs war.

Vor drei Jahren haben Sie «Meine Seele hat kein Geschlecht», einen Band mit Werken der Dichterin, veröffentlicht. Was war das Ziel der Publikation?
Erstens wollte ich eine andere, grössere Alfonsina Storni zeigen. Auf Deutsch waren nur Lyrikanthologien greifbar, und auch in der spanischsprachigen Welt wird sie aus diesem extrem eingeschränkten Blickwinkel wahrgenommen. Praktisch ist sie auf ihre frühe Lyrik reduziert, dabei war sie ihr ganzes Leben lang publizistisch tätig. Deshalb finden sich in meinem Buch Erzählungen, Essays, Kurzprosa und vor allem Kolumnen, die sie für argentinische Tages- und Wochenzeitungen verfasst hat. Zweitens wollte ich allen Lesenden im deutschen Sprachraum ein möglichst facettenreiches Lesebuch in die Hand geben. Und schliesslich soll es komplementär zur Biografie sein.

Alfonsina Storni. Erzählungen, Kolumnen, Provokationen von Hildegard Kellern von Al

In welchem Milieu bewegte sich Alfonsina Storni?
Die kulturelle Szene von Buenos Aires funktionierte Anfang des 20. Jahrhunderts in Zirkeln und Gruppierungen. Es existierten Salons, Clubs, Bars, Restaurants, in denen man sich traf. Die Schriftsteller und Intellektuellen kannten einander meist persönlich. Wenn ein Buch erschien, wurde das gemeinsam gefeiert. Man sass zusammen, ass, diskutierte und rezitierte auch Gedichte. In Buenos Aires gab es unterschiedliche Gruppierungen, die je nach politischer Couleur auch miteinander verfeindet waren. Auch Stornis Karriere ist davon geprägt. Hier fand sie Förderer, aber auch Feinde.

Wie sahen die Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Alfonsina Storni zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus?
Alfonsina lebte zwischen 1912 und 1938 in Buenos Aires als alleinerziehende, ledige Berufsfrau. Ihre Lebensverhältnisse waren einfach, sie wohnte meistens in Pensionen. In Buenos Aires jobbte sie zuerst als Verkäuferin, dann in einer Marketingabteilung, dann wurde sie auch freie Mitarbeiterin von Zeitungen und Zeitschriften und schrieb Kolumnen. In einer Theaterschule brachte sie den Kindern bei, aufzutreten und Gedichte zu rezitieren. Sie hatte viele Jahre lang viele Jobs nebeneinander.

Sie arbeiten auf zwei Kontinenten, als Wissenschaftlerin, Literaturkritikerin, Publizistin, Filmerin und Performerin. Schätzen Sie die Freiheit dieser verschiedenen Beschäftigungsmöglichkeiten?
Ja! Sie ermöglichen mir, ganz verschiedene Talente einzubringen, Fähigkeiten zu entwickeln, zu lernen, das ist ganz toll. Und immer überraschend. Manchmal kann ich in Bloomington an etwas arbeiten, das dann in der Schweiz wichtig wird, oder auch umgekehrt. Storni sagte einmal: «Ancho es el mundo y en él caben todos.» Weit ist die Welt, und in ihr haben alle – und alles, möchte ich hinzufügen – Platz.

Literaturwissenschaftlerin und Künstlerin
Hildegard Elisabeth Keller ist Germanistin und Hispanistin. Sie wirkt als Kritikerin beim Literaturclub von SRF, Professorin für ältere deutsche Literatur an den Universitäten Bloomington (Indiana, USA) und Zürich sowie als Jurorin beim Bachmann-Preis von ORF/3SAT. Unter ihren zahlreichen Publikationen zur Mystik, Medizin- und Theatergeschichte ist die fünfbändige Werkausgabe über den Zürcher Chirurgen und Schriftsteller Jakob Ruf (1505–1558). Seit 2005 produziert Keller Audiomedien, seit 2012 auch Filme. Anlässlich der grossen Mystikausstellung im Museum Rietberg Zürich entstand ihre «Trilogie des Zeitlosen» mit Hörspielen über grosse Mystikerinnen und Mystiker (2011). Ihr erster Dokumentarfilm «Whatever Comes Next» (2014) porträtiert die amerikanisch-österreichische Malerin Annemarie Mahler. Hildegard Keller übersetzte Alfonsina Stornis Prosa erstmals auf Deutsch, schreibt ihre Biografie unter dem Titel «Distel im Wind» und macht in Amerika und Europa multimediale Performances zu Stornis Leben und Werk mit Musikern. (www.hildegardkeller.ch)