Veröffentlicht am 18.07.2013TEXT: Melinda MelcherFOTO: Simone Gloor

Zahlenwirrwarr

Die Politik kümmert sich im Herbst 2013 um die Traktanden Energiewende und Atomausstieg. Die Diskussion im Parlament wird sich dabei stark um die Kostenfrage – mitunter um die Kosten der verschiedenen Energieträger – drehen.

Eine klare Orientierung darüber zu erlangen, wie wir in Zukunft unseren Energiehunger stillen, ist schwierig; zu viele Variablen trüben eine klare Sicht. Dennoch, der Atomausstieg ist beschlossen.

Der Bundesrat hat mit der Energiestrategie 2050 einen Vorschlag für dieses generationenübergreifende Projekt unterbreitet. Die Strategie des Bundesrates sieht vor, den Energie- und Stromverbrauch pro Person um 35 Prozent zu senken, den Anteil fossiler Energie zu reduzieren und die nukleare Stromproduktion durch Effizienzgewinne und den Zubau erneuerbarer Energie zu ersetzen.

Die Debatte um die Aufwände der Energiewende läuft heiss, zahlreiche Stimmen prägen den Diskurs. Einzelne sprechen von Suffizienz – was im ökologischen Sinne heisst, den Rohstoff- und Energieverbrauch pro Kopf zu reduzieren  – andere zeigen globale Zusammenhänge auf und sensibilisieren für den Weg der erneuerbaren Energien und deren Ausbau. Im Sinne von: weg vom Erdöl. Wiederum andere hinterfragen den Nutzen einer staatlichen Intervention zur Einleitung der Energiewende. Die Wissenschaft rechnet die materiellen Kosten wie zum Beispiel für Infrastrukturerneuerungen und -ausbau und simuliert anhand von Gleichgewichtsmodellen den Nutzen von CO2- oder Stromabgabe.

Fragen der Berechnung

Das uns die Energiewende was kosten wird, darüber sind sich alle Akteure einig. Nur wie hoch die Kosten und welche Berechnungsmodelle zu nutzen sind, darüber herrscht Unstimmigkeit. Schätzungen sind meist delikat, erst recht auf 40 Jahre hinaus. Die Schweizerische Energie-Stiftung (SES) gibt an, dass für die Umsetzung der Energiewende bis zum Jahr 2050 derzeit Kostenschätzungen von 30 bis 180 Milliarden Franken kursieren.

Verschiedene Berechnungen und Resultate prägen die Debatte. Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse behauptete im Januar basierend auf einer ETH-Studie von Wirtschaftswissenschaftler Peter Egger zum Beispiel, dass die Energiewende in der Schweiz Einbussen von bis zu 25 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) verursachen könnte.

Laut Philipe Thalman von der ETH Lausanne, kommt die Wissenschaft wegen dem Einsatz von unterschiedlichen Modellen und abweichenden Szenarien zu unterschiedlichen Ergebnissen. Grundsätzlich sei kein Modell fähig, alle Prozesse einer komplexen Wirtschaft im internationalen Umfeld auch nur annähernd darzustellen. Ferner seien das Bruttoinlandprodukt (BIP) oder die Arbeitslosenquote keine hinreichenden Indikatoren für Wohlfahrtsveränderungen, so Thalmann.

Voodoo-Ökonomie

Durch das gegenwärtige Zahlenwirrwarr navigiert sich auch Hanspeter Guggenbühl, Referent an der SES Fachtagung 2013, freischaffender Journalist und Buchautor, spezialisiert auf Energie-, Umwelt-, Verkehrs- und Wirtschaftspolitik. Grundsätzlich vertritt er die Haltung, dass Hochrechnungen bis zum Jahre 2050 mit Voodoo-Ökonomie gleichzusetzen sind. Darum beschränkt sich der Zahlenjournalist darauf, die Preisveränderungen von Heizöl, Gas und Strom der letzten Jahrzehnte darzustellen, basierend auf den Statistiken des Bundesamtes für Energie (BFE). Diese verzeichnen von 1970 bis 2011 einen geringen Preisanstieg von Erdgas und eine starke Preissteigerung von Heizöl, nach Abzug der Teuerung. Der Strompreis ist in dieser Zeitspanne gesunken.

Der Anteil von Erdölprodukten am Energiekuchen, insbesondere von Heizöl, sei kleiner geworden, sagt Guggenbühl. Erdgas und Strom jedoch hätten ihren Marktanteil erhöht. Der Endenergieverbrauch in der Schweiz habe seit 1970 insgesamt um 50 Prozent zugenommen (siehe Grafik). Bundesamt für Energie«Die Kosten der Energie hingegen, gemessen an der Wirtschaftsleistung oder am Gesamtkonsum sind gesunken», hebt Guggenbühl hervor.

Der Journalist betont, dass der Importüberschuss an grauer Energie nicht in den statistisch erfassten Energiekosten enthalten ist. In seinem Buch «Energiewende – und wie sie gelingen kann» erfasst Guggenbühl sowohl den direkten als auch den grauen (in den importierten Produkten enthaltenen) Primärbedarf. Diese Energiemengen rechnet er um, in sogenannte «Energiesklaven». Ein Energiesklave entspricht nach Guggenbühl – je nach Berechnungsart – der Energiemenge, die ein Mensch in Form von Nahrung aufnimmt (Input) oder in Form von Körperarbeit leisten kann (Output).

Insgesamt beanspruche eine Person in der Schweiz rund 50mal mehr direkte und graue Primärenergie, als ihr eigener Körper hergebe. Um die Energiewende zu verwirklichen, müsse dieser Energieverbrauch vermindert werden. «Ich bin für die Reduktion der Energiesklaven. Damit meine ich, dass wir einen Teil  unserer Energiesklaven befreien sollten.» Das sei möglich, weil ein Teil der Energiesklaven ineffizient eingesetzt werden, ist der Journalist überzeugt und nennt ein Beispiel: «Wir setzen 10 Energiesklaven für die Benutzung des Autos ein. Neuneinhalb machen nichts anders, als die Verpackung von A nach B zu transportieren. Für den Transport von mir als Person, braucht es jedoch nur einen halben Energiesklaven.»

In diesem Beispiel setzt der Journalist 1,5 Tonnen Verpackung in Form des Autos den durchschnittlichen 70 Kilogramm Transportgut Fleisch und Knochen eines Menschen gegenüber. Als Alternative nennt er das Elektrobike, dass lediglich 30 Kilogramm Verpackung aufweist und sich somit viel effizienter als das Auto zeigt.

«Die Befreiung von – mehrheitlich importierten – Energiesklaven senkt nicht nur Kosten, sondern macht uns auch unabhängiger», sagt Guggenbühl. Dafür sollte nicht nur die Effizienz des Energieeinsatzes, sondern auch die Effizienz des Konsums gesteigert werden: «Konsumeffizienz respektive Suffizienz bedeutet, mit weniger Konsum mehr Lebensgenuss und Selbstbestimmung zu erreichen».

Energiehungrige Schweiz

Ja, die Schweiz produziert mit ihrer Wasserkraft günstigen Strom. Dennoch zählt sie  auch zu den Grossimporteuren von Energie und ist gemäss SES zu 85 Prozent von diesen Energieimporten abhängig. Der Energiemix der Schweiz wird mit rund 54 Prozent Erdölanteil von fossilen Energieträgern dominiert.

Erdölexperte Daniele Ganser, Gründer und Leiter des Schweizer Instituts für Friedens- und Energieforschung (SIPER) in Basel, beziffert den Erdölkonsum der Schweiz mit 18 Milliarden Franken für das Jahr 2010. 1990 wären es noch 9 Milliarden Franken gewesen. Die Kosten hätten sich bei gleicher Menge in den letzten 20 Jahren somit verdoppelt, betont Ganser.

Der Experte spricht das Offensichtliche aus: «Wir sind hochgradig süchtig. 88 Millionen Fässer Erdöl werden weltweit täglich verbraucht.» Diese Zahl ist dem Historiker und Friedensforscher speziell wichtig. Mit ihr verdeutlicht er den gegenwertigen und kostspieligen Energiehunger sowie unsere Erdölabhängigkeit. Der Forscher zeigt in seinem Buch «Europa im Erdölrausch» auf, dass Europa bis vor kurzem noch keine Erdölknappheit erlebte, dies nun jedoch Realität ist.

Als Beispiel nennt er die rückläufige Förderung der wichtigsten konventionellen europäischen Erdölproduzenten Norwegen und Grossbritanien. Mit den Beispielen des Irakkriegs, dem Fracking – eine umstrittene Erdgasfördermethode –, Erdöl vom Nordpol und der Gewinnung von Erdöl aus Sand oder der Tiefsee illustriert er, dass konventionelles Erdöl knapp und global umkämpft ist. Die Energiewende fände somit in einem äusserst interessanten Gesamtkontext statt.  Wir seien erstmalig mit dem Zustand eines Erdölabflusses konfrontiert, in manchen Gebieten sogar erreichtem Fördermaximum – Peak Oil – das Grossbritanien bereits im Jahr 2000 erreichte. «Der Druck steigt. Ein Umdenken in Richtung erneuerbarer Energien – sprich die Energiewende – ist unausweichlich», sagt der Energieforscher.

Nachfrage bestimmt den Weg 

«Die neutrale Schweiz kann ihre Wirkung primär auf der Konsumentenseite entfalten, indem Herr und Frau Schweizer die Ölheizung zum Beispiel durch Erdwärmepumpen oder Solaranlagen ersetzen», ist Ganser überzeugt. Die Reaktion könne also primär auf der Seite der Nachfrage wirksam sein. Der Autor mahnt: «Wir sollten das Erdöl verlassen, bevor es uns verlässt.» Er weist darauf hin, dass ein weiterer Anstieg des Erdölpreises unsere Wirtschaft ersticken könne.

Als Beispiel nennt er den Preis von 140 Dollar pro Fass vom Jahr 2008. Der Experte bekräftigt, dass Rezession und Arbeitslosigkeit den Handlungsbereich jedes einzelnen stark schmälere. «Die Energiewende ist auch ein Jobmotor. Herr und Frau Schweizer können die Erdölheizung nicht selber ausbauen und die Wärmepumpe einrichten, dazu brauchen sie Unterstützung.» Diese erbrächten in unserem Land weitgehend KMU, so Ganser.

Der Ruf nach mehr Energie-Autonomie ist an der Fachtagung laut hörbar. Die SES bewirbt die erneuerbaren Energien und bot an der diesjährigen Tagung zum Thema «Energiewende – was kostet sie wirklich» von Ende Juni zahlenreiche Denkanstösse. Wohin das Generationenprojekt führt, was dieses genau kostet, bleibt noch offen.