Veröffentlicht am 14.01.2008TEXT: Esther Salzmann

Kein Volk von Sesselklebern

Gemäss der Arbeitnehmerorganisation «Angestellte Schweiz» ist die Fluktuationsrate in der Schweiz zu hoch. Im HR-Management grosser Unternehmen sieht man das anders.

9,7 Prozent der Erwerbstätigen oder rund 300000 Arbeitnehmende wechseln jährlich die Stelle – freiwillig. Dies ergab die Studie «Arbeitsplatzwechsel in der Schweiz», die die rund 27000 Mitglieder zählende Arbeitnehmerorganisation der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie und Chemie/Pharma «Angestellte Schweiz» beim Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitsrecht der Universität St.Gallen in Auftrag gegeben hat.
Die Arbeitnehmerorganisation erachtet die Fluktuationsrate als um rund 1 Prozent zu hoch. Eine so hohe Quote wirke sich negativ aus, für Arbeitgeber entstünden erhebliche Kosten und für verbliebene Mitarbeitende wachse der Stress, da sie die Arbeitslast auffangen müssten. «Angestellte Schweiz»-Geschäftsführer Vital Stutz warnt gar vor einer gefährlichen Fluktuations-Frustrations-Spirale.
Als Grundlage für die Studie dienten die Aussagen von über 15000 Voll- und Teilzeitbeschäftigten. Sie wurden gefragt, wie wahrscheinlich es sei, dass sie innert der nächsten zwölf Monate eine andere Anstellung suchen werden. Betrachtet man den Anteil der Beschäftigten, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einen Stellenwechsel innerhalb der nächsten zwölf Monate beabsichtigen, befindet sich die Schweiz zwar im
Mittelfeld, liegt aber mit 10,3 Prozent um 1,3 Prozent über dem Durchschnitt.
Beabsichtigte und effektive Stellenwechsel sind allerdings nicht identisch: Im Jahr 2005 wanderten 4,6 Prozent der Arbeitnehmenden, welche im Jahr zuvor noch erklärten, keinen Stellenwechsel ins Auge zu fassen, trotzdem zu einem anderen Arbeitgeber ab. Andererseits haben lediglich 25,2 Prozent derjenigen, die 2004 einen Stellenwechsel angekündigt hatten, diesen Wechsel im Jahr 2005 auch vollzogen.
Was bewegt Arbeitnehmende zu einem Stellenwechsel? Als Hauptgründe werden Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen und der Wunsch nach Wechsel genannt. Mit «Arbeitsbedingungen» sind insbesondere Arbeitszeiten und -pensen gemeint. Der Wunsch nach einer Änderung des Arbeitspensums veranlasst sowohl Teilzeit- als auch Vollzeitkräfte, sich nach einer neuen Position umzusehen. Auch wer regelmässig Überstunden, Schicht-, Wochenend- oder Nachtarbeit leisten muss, verspürt den Wunsch, dies zu ändern.

Eine Fehlrekrutierung kostet bis zu zwei Jahresgehälter

Abwanderungsgelüste hegen laut Studie auch Mitarbeitende, die sich weiterentwickeln wollen, es jedoch beim aktuellen Arbeitgeber nicht tun können. Zu tiefer Lohn spielt dagegen eine vergleichsweise geringe Rolle. Immerhin hat sich der Anteil jener, die den Arbeitgeber aus Salärgründen wechselten, zwischen 2002 und 2005 von 4 Prozent auf 8 Prozent verdoppelt. Insbesondere in den tieferen Lohnsegmenten spielt die Aussicht auf mehr Lohn eine entscheidende Rolle. Die Besserbezahlten bleiben – zumindest dann, wenn die neue Stelle nicht mit einem hierarchischen Aufstieg verbunden ist – trotz höheren Salärangeboten eher an ihrem aktuellen Arbeitsplatz.
Die Fluktuationsrate muss allerdings immer auch vor dem Hintergrund der strategischen Ausrichtung des Unternehmens gesehen werden: Nicht in jedem Fall wird eine möglichst oder gleich tiefe Fluktuationsrate angestrebt. Eine Patentlösung, ein generelles «zu hoch» oder «zu tief» gibt es nicht. Jedes Unternehmen, ja jeder Bereich innerhalb eines Unternehmens, muss die «passende» Lösung finden und entsprechende Massnahmen ergreifen.
«Die Austrittsraten – freiwillige und unfreiwillige Vertragsauflösungen – während der ersten Monate sind für uns wichtige Anhaltspunkte für unsere Rekrutierungsqualität», sagt etwa Ursula Bachmann, Human Resources Director bei der Canon (Schweiz) AG. Auf die entsprechenden Resultate – sie bewegten sich in den vergangenen Jahren zwischen null Prozent (sechs Monate) und 2 Prozent (während dreimonatiger Probezeit) – kann Canon stolz sein, kostet doch eine Fehlrekrutierung nach einem Anstellungsjahr gut und gerne ein bis zwei Jahresgehälter.
Doch freiwillige Abgänge sind keine Katastrophe. «Eine Fluktuationsrate von bis zu 12 Prozent ist für Unternehmen wie Canon durchaus befruchtend», erklärt Ursula Bachmann. «Fluktuation ist jedoch nicht gleich Fluktuation. Wir wollen ja die richtigen Leute behalten und weiterentwickeln.» Auch wenn Canon Schweiz im Jahr 2006 eine Fluktuationsrate von lediglich 7 Prozent verzeichnete, so kommen die von Ursula Bachmann erwähnten 12 Prozent längerfristig hin, beträgt das durchschnittliche Dienstalter doch elf Jahre.
Auf die Frage, ob er die 9,7-prozentige Fluktuation als zu hoch einschätze, meint Hans-Rudolf Castell, Leiter HR Management Migros-Gruppe: «Die Fluktuationsrate ist in den letzten Jahren trotz unterschiedlicher Konjunkturlage und veränderter Marktsituationen annähernd unverändert geblieben. Diese Konstanz ist durchaus als positiv zu bezeichnen. Die herrschende Fluktuationsrate ist nicht zu hoch. Eine gewisse Fluktuation ist ja auch durchaus erwünscht, da Veränderungen im Bestand gewissermassen Blutauffrischungen herbeiführen können.» Castell bezeichnet eine Rate bis maximal 12 Prozent als gut. Raten gegen 20 Prozent und höher seien allerdings zu hoch und auf schwerwiegende, im Markt oder in einzelnen Unternehmen liegende Gründe zurückzuführen. Die Fluktuationsrate 2006 der Migros-Gruppe betrug 11,8 Prozent.

Angestellte mit Kundenkontakt wechseln häufiger die Stelle

Gemäss Nadine Gembler, Leiterin Personal Coop Hauptsitz, liegt die durchschnittliche Fluktuationsrate von Coop seit Jahren stabil bei 13 Prozent. Für den Einzelhandel entspreche dies einem üblichen Wert. Eine Fluktuationsrate von 9,7 Prozent im adminis­trativen Bereich bezeichnet sie als eher hoch, für das Gastgewerbe würde es allerdings einer sehr tiefen Quote entsprechen. Eine Fluktuationsrate könne also nie generell beurteilt werden. Bei Coop wird die Fluktuationsrate nach einzelnen Abteilungen erhoben. Wenn eine Fluktuationsrate in einer Abteilung wesentlich höher ist als in einem anderen vergleichbaren Bereich, werden die Gründe dafür überprüft und entsprechende Massnahmen ergriffen.
Auch Chris Dunkel, Leiter HR Zurich Schweiz, weist auf die Unterschiede in den verschiedenen Branchen und Funktionen hin und nennt Beispiele aus der Zurich Schweiz. Im Innendienst betrage die aktuelle Fluktuation 5,7 Prozent, im Verkauf hingegen 14,1 Prozent. Für die Versicherungsbranche erachtet er Raten über 10 Prozent im Innendienst und über 15 Prozent im Aussendienst als zu hoch, aber noch nicht alarmierend.
Bei der ZKB schliesslich betrug die Fluktuationsrate im vergangenen Jahr 5 Prozent, wobei auch hier Unterschiede festzustellen sind. In administrativen Funktionen sei die Rate tiefer als beispielsweise bei den Kundenbetreuern an der Front, die auf dem Arbeitsmarkt gegenwärtig stark umworben seien, meint René Hoppeler, Leiter Personal der ZKB. Er führt diese relativ tiefe Gesamtrate unter anderem auf die gute Unternehmenskultur sowie die regelmässig durch­geführten Mitarbeiterbefragungen zurück.
So ganz und gar unzufrieden mit ihrem Arbeitsplatz sind Schweizer Arbeitnehmende ja grundsätzlich nicht. Immerhin ist die Arbeitsplatzstabilität in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten konstant geblieben. Die durchschnittliche Betriebs­zugehörigkeit stieg im Zeitraum von 1991 bis 2005 um ungefähr 12 Prozent an. Für Männer beträgt sie rund zehn, für Frauen rund acht Jahre.