Veröffentlicht am 29.04.2015FOTO UND TEXT: Hakan Aki
Reto Thurnherr

Reto Thurnherr mit dem WM-Pokal vor dem Fussballrasen der Fifa in Zürich.

Karriere trotz Behinderung

Reto Thurnherr arbeitet seit knapp 18 Jahren bei der Fifa in Zürich. Als Hauptverantwortlicher für sämtliche Pokale kümmert er sich um die Bestellung der Trophäen und die Kommunikation zwischen dem Weltverband und den Pokalherstellern. Reto Thurnherr ist der einzige Hörbehinderte, der beim Weltfussballverband arbeitet.

Das Kongresshaus in Zürich ist bis auf den letzten Platz besetzt. Wer wird wohl Fussballer des Jahres werden? Ein kleingewachsener junger Mann in Anzug und Krawatte betritt leicht hinkend die Bühne. Mit weissen Handschuhen hält Reto Thurnherr einen mit Brillanten besetzten goldenen Ball, den «Ballon d’Or». Die Kameras sind gerichtet. Blitzlichtgewitter prasselt auf ihn ein. In der Mitte der Bühne bleibt Reto Thurnherr stehen, verbeugt sich und stellt die Trophäe auf einen Sockel. Langsam, den Blick nochmals ans Publikum gerichtet. Den tobenden Applaus hört der 40-Jährige dank eines Hörgerätes auf dem linken Ohr, denn er ist hör- und körperbehindert. 

Reto Thurnherr leidet seit seiner Geburt an einer cerebralen Lähmung (siehe Kasten). Diese brachte beim heute 40-Jährigen eine vollkommene Taubheit des rechten Ohres mit sich. Dank eines Hörgerätes hört er auf dem linken Ohr zirka 65 Prozent. Auch einen Hörsturz hat Reto Thurnherr bereits in seiner Kindheit erlitten. Seine Gehbehinderung ist auf eine Fehlstellung des Beckens und der Hüfte zurückzuführen.

Erst Schweizerdeutsch dann Gebärdensprache

Anders als die meisten Hörbehinderten, die mit der Gebärdensprache aufwachsen, lehrten Reto Thurnherrs Eltern ihn Schweizerdeutsch. Er besuchte die heilpädagogische Sonderschule in Hohenrain (LU) und eignete sich erst dort die Gebärdensprache an. «Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich immer gewundert, was die Leute mit den Händen machten», sagt er lachend.

Als sich Reto Thurnherr kurz vor Ende seiner kaufmännischen Ausbildung bei der Stiftung Brunau in Zürich um einen Job bewerben muss, weiss der fussballverrückte Fan des FC Luzern, wo es hingehen soll: Zur Fifa. «Ich wusste schon als Kind, dass ich eines Tages etwas machen werde, das mit Fussball zu tun hat», erzählt er stolz. Reto Thurnherr wird schliesslich für einen Schnuppertag bei der Fifa ausgewählt. Ein halbes Jahr vor Ende seiner Lehre kann er zudem ein Praktikum für zwei Monate machen. In diesem kümmert er sich um die Schiedsrichterlisten. Dies sind Listen von Personen, die als Referees in die Fifa aufgenommen werden. Die Verantwortlichen des Weltverbandes sind von Reto Thurnherrs Arbeitsweise und seinem Einsatz so sehr angetan, dass sie ihm eine Stelle anbieten. Für ihn geht ein Traum in Erfüllung. Für den Körper- und Hörbehinderten ist aber klar: Zuerst kommt der Lehrabschluss. 

«Ich hätte auch Zuhause sitzen und IV kassieren können, wollte aber immer einen Lehrabschluss in der Tasche haben», sagt er. Als Jugendlicher musste sich Reto Thurnherr immer wieder den Spruch anhören: «Du wirst niemals eine Lehre machen können.» Unruhig rutscht er auf seinem Stuhl hin und her, als wolle er sagen «Ich habe es doch geschafft und allen gezeigt».

Nach seinem erfolgreichen KV-Abschluss tritt Reto Thurnherr sein Praktikum an. Zu Beginn noch in der Finanzabteilung verantwortlich für die Debitorenbuchhaltung, bekommt Reto Thurnherr später auch Einblicke in andere Abteilungen. In der Logistik kümmert er sich zunächst um die Lagerwirtschaft und das Versandwesen. Heute arbeitet er als Mitarbeiter in der Dokumentationsstelle und ist dort Hauptverantwortlicher für sämtliche Pokale. Als solcher ist er für die Bestellung der Pokale und die Kommunikation zwischen den verschiedenen Herstellern und dem Fifa-Marketing zuständig. Dies erledigt Reto Thurnherr meist per Mail. Zudem kümmert er sich um die Dokumentation des Schriftverkehrs.

Reto Thurnherr ist ein angesehener und allseits beliebter Kollege, auch auf der Chefetage: «Reto arbeitet seit nunmehr über 18 Jahren für die Fifa und hat sich während dieser Zeit ein grosses Wissen rund um die Fifa und den Fussball angeeignet, von dem wir alle profitieren können», sagt Fifa-Präsident Sepp Blatter über seinen Angestellten. Und er fügt an: «Retos Fröhlichkeit und sein Enthusiasmus, mit dem er tagtäglich zur Arbeit erscheint, sind ein grosser Gewinn für unsere Organisation. Beeindruckend ist auch Retos Einsatz für den Futsalsport der Gehörlosen. Ich bin immer bestens informiert darüber, wie sich die von Reto betreuten Mannschaften in der Meisterschaft schlagen und schätze sein Engagement in diesem Bereich sehr.»

Besseres Gehgefühl

Durch die Fifa lernt Reto Thurnherr einen Arzt kennen, der ihm Hoffnung auf ein verbessertes Gehgefühl macht. In der Schulthess Klinik in Zürich unterzieht sich Thurnherr einer komplizierten Operation. Nachdem ihm der behandelnde Arzt bei erster Korrektur das linke Bein um 38 Grad nach aussen dreht, verlängert er ihm zugleich die Sehnen. Bei einer zweiten Operation wird dem Gehbehinderten das rechte Bein um 26 Grad nach aussen korrigiert. Dazwischen liegen zahlreiche Monate schmerzhafter Therapien und Reha-Behandlungen. «Beim ersten Eingriff wusste ich nicht, was mich erwartet», sagt Reto Thurnherr. Rückblickend gibt sich der Fussballfan zufrieden über die Korrektur: «Für mich war es eine Schönheitsoperation, die ich jederzeit wieder machen würde.» Gleichzeitig ist sein Ärger über die «Götter in Weiss» unverhohlen: «Ich habe mich bereits in Schulzeit über einen solchen Eingriff informiert. Damals wurde mir Aufgrund der zu befürchtenden Risiken davon abgeraten», erzählt er.

Bei der Fifa fühlt sich Reto Thurnherr sehr wohl: «Hier bin ich einer von ihnen und werde gefordert.» Bei einem anderen Arbeitgeber würde er sich schwerer tun, ist er sich sicher. «Ein anderer Arbeitgeber hat vielleicht noch nie mit einem Behinderten zusammengearbeitet. Womöglich ist ihm eine solche Situation neu und er fühlt sich überfordert.» Reto Thurnherr ist der Meinung, dass sich Unternehmen mehr um die Integration von Menschen mit Handicap bemühen sollten. Aber nicht nur die Wirtschaft sei gefordert, auch die Behinderten ihrerseits sollten mehr Initiative ergreifen.

In Bezug auf ein gemeinsames Miteinander fordert Reto Thurnherr von Menschen mit Behinderungen, offen über ihre Handicaps zu sprechen. «Meine Arbeitskollegen kennen meine Behinderung. Damit ich mit ihnen kommunizieren kann, müssen sie langsam sprechen. So kann ich ihnen von den Lippen ablesen und antworten. Wenn sie wissen, wie sie mit mir umgehen sollen, können sie das viel ungezwungener tun.» Das einzige was ein Behinderter seiner Meinung nach nicht braucht, ist Mitleid. Im Bezug auf die Arbeit sieht Reto Thurnherr sogar Vorteile in seinem Handicap: «Als Hörbehinderter kann ich nicht so schnell abgelenkt werden und bin konzentrierter.»

Gemeinsames Miteinander

Seit nunmehr zehn Jahren ist Reto Thurnherr verantwortlich für die Pokale des Fifa «Ballon d’Or». Die Vorbereitungen für die festliche Übergabe des goldenen Balles für den «Fussballer des Jahres» beginnen bereits im September des Vorjahres. Per Abstimmung legen die Trainer und Kapitäne der verschiedenen Nationalteams dann die ersten Namen der Nominierten fest. Reto Thurnherr ist für die Logistik, Materialprüfung und Richtigkeit des Siegernamens verantwortlich. Die Auszeichnung findet jeweils am zweiten Montag im Januar statt. Hinter der Bühne schaut er, dass die richtigen Pokale auf die Bühne kommen. «In einem separaten Raum überreiche ich dem Sieger nach der Gala das Duplikat mit der Gravur seines Namens.»

Neben seiner grossen Liebe, dem FC Luzern, ist Reto Thurnherr Trainer und Manager beim Futsal Gehörlosenverein Zürich. Futsal ist eine modernere Art des Hallenfussballs, die international anerkannt ist und von der Fifa gefördert wird. Reto Thurnherrs Team wurde Schweizer Meister 2014. Fünf Spieler des Vereins sind auch für die Nationalmannschaft im Einsatz, die sich für die Gehörlosen-Weltmeisterschaft 2015 in Thailand qualifiziert hat, die im November stattfindet.

Gefragt nach seinem grössten Wunsch sagt Reto Thurnherr: «Lasst uns gemeinsam die Mauer zwischen Behinderten und Normalos zum Einsturz bringen.»

Cerebrale Lähmung
Unter einer cerebralen Lähmung (CP) versteht man alle Arten von Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates, der vom Gehirn gesteuert wird. Begleiterscheinungen können Hör,- Seh - und Wahrnehmungseinschränkungen sein. Sauerstoffmangel während der Geburt oder Röteln und Virusinfektionen im Kindesalter können das kindliche Gehirn schädigen und die Ursache für eine cerebrale Lähmung sein.