Veröffentlicht am 08.08.2012TEXT: Andreas TschoppFOTO: Andreas Tschopp

«Ein Kämpfer ist er sein Leben lang geblieben»,
sagt Bernard Degen über Robert Grimm.

«Er hat die Arbeiterbewegung auf eine neue gesellschaftliche Ebene gehoben»

at. Robert Grimm war eine der schillerndsten politischen Figuren der Schweiz im 20. Jahrhundert. Ein neues Buch beleuchtet bisher wenig bekannte Seiten des Arbeiterführers, der «sehr, sehr autoritär war, so dass viele Leute Angst vor ihm hatten», wie Autor und Mitherausgeber Bernard Degen sagt.

Bernard Degen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Basel und Experte für schweizerische Sozialgeschichte. Aus seiner Tastatur stammen diverse Publikationen zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Schweiz.

Marxist, Kämpfer, Politiker: So wird Robert Grimm im Untertitel des Werks, das Sie mitherausgegeben haben, umschrieben: was trifft am besten auf ihn zu?
Bernard Degen: Wir haben drei Begriffe ausgewählt, die alle auf ihn zutreffen. Kein Schweizer Politiker ist wohl weltweit so berühmt geworden wie Robert Grimm. Ein Kämpfer ist er sein Leben lang geblieben. Er hat sich stets gewehrt gegen die herrschenden Zustände. Man sieht das auch bildlich: er macht ein grimmiges Gesicht auf allen Fotos. Das war so etwas wie sein Markenzeichen. Er wollte damit, wie sein Schwiegersohn Adolf McCarthy einmal schrieb, seine Ablehnung gegenüber dem bestehenden System ausdrücken. Marxist zu sein, ist für die Schweiz schon eine Seltenheit. Es gab zwar ein paar Theoretiker, die im Sinne des Marxismus publiziert haben, und auch einige Politiker. Aber keiner hat wie er 50 Jahre lang auf dieser Basis geschrieben und fast 250 Beiträge verfasst. Dies ohne ein Akademiker zu sein. Denn Grimm hat als Arbeitersohn Typograph gelernt. So hatte er dauernd mit Texten zu tun, und er hat daraus wohl sein Sprachgefühl entwickelt.

Was für eine Art Mensch war der wohl berühmteste Schweizer Arbeiterführer?
Grimm war auf der einen Seite ein sehr loyaler Mensch, der über Jahre und auch gelegentlich über politische Differenzen hinweg freundschaftliche Verhältnisse pflegte. So sieht man die Arbeiterfamilie, die ihn einst vorübergehend beherbergte, noch lange auf Bildern von offiziellen Anlässen. Auf der anderen Seite war er sehr, sehr autoritär, so dass viele Leute Angst vor ihm hatten. Er hat seine Autorität nicht bloss durch Poltern ausgedrückt hat, sondern er hat dank seiner Belesenheit und seinem grossen Hintergrundwissen den andern auch ihre Fehler vorgehalten. Das hat für viele die Zusammenarbeit sehr schwierig gemacht.

Der Einzug in den Bundesrat blieb ihm verwehrt, weil er ein paar Nummern zu gross war für das Gremium.

Welchen Einfluss hatte Grimms Wirken auf die sozialpolitische Entwicklung unseres Landes?

Das Wirken einer Einzelperson ist schwer abzuschätzen. In der damaligen Zeit konnte Grimm aber immer wieder massgebend Einfluss nehmen. Das Wichtigste, das er einbrachte, war zuerst 1906 die Theorie des Generalstreiks als politisches Druckmittel und dann die Praxis durch dessen Mitorganisation 1918. Damit hat Grimm die ganze Arbeiterbewegung auf eine neue gesellschaftliche Ebene gehoben, so dass die Herrschenden nach dem Streik einsahen, dass sie sich jetzt arrangieren mussten, damit sich die Sache nicht wiederholte. Er hat danach nicht allein die Früchte geerntet, sondern hat viele andere mit in eine bessere Position gebracht.

Kann man sagen, dass Grimm der Wegbereiter für den Einzug der SP 1943 in den Bundesrat war? Ihm selber blieb ja der Weg dahin verwehrt.
Ihm blieb der Einzug in den Bundesrat in erster Linie verwehrt, weil er ein paar Nummern zu gross war für das Gremium. Er wäre dort sicher zu dominant gewesen. Zudem konnte man ihn nicht so einfach im Amt ruhigstellen. Vielmehr hat er stets betont, die Arbeiterbewegung müsse stark bleiben, damit etwas geschieht, und sie müsse schauen, dass «die da» keine Dummheiten machen. So gesehen, ist er in jedem Gremium, in das er eingetreten ist, ein Fremdkörper geblieben.

Was ist nach Grimms Tod 1958 geblieben, und worin besteht heute noch seine Aktualität?
Zum Zeitpunkt seines Todes schien er völlig überholt. Denn in einem seiner letzten Werke hatte er gewarnt, dass die Hochkonjunktur nicht ewig anhalten werde. Das war etwas, was damals niemand hören wollte. Grimm ist danach eine Zeit lang aus dem Bewusstsein verschwunden, ehe seine Themen im Rahmen der Studentenbewegung 1968 wieder aufgenommen wurden. Kritisiert wurde damals vor allem, dass das Aktionskomitee den Generalstreik zu früh abgebrochen habe. Nachher ist der Name Grimm immer wieder episodenartig aufgetaucht und ins Gespräch gekommen.

Wie würden Sie Grimms Wirkung auf internationaler Ebene einschätzen?
Er versuchte mit andern zusammen, vor allem mit seinen Freunden in Österreich, eine Sozialdemokratie zu entwickeln, die sich einerseits klar gegen die Kommunisten abgrenzte, und andererseits auch gegen Strömungen, die sich zu stark den Bürgerlichen anpassen wollten. Dies war lebenslang seine Position. Damit hat er eine Politik verfolgt, die höchst anspruchsvoll ist.

Worin unterscheidet sich das neue Werk über Robert Grimm von der politischen Biographie, die 1980 erschienen ist?
Unser Werk ist wesentlich neuer und kann deshalb seitherige Erkenntnisse mitberücksichtigen. Aber vor allem ist es uns gelungen, sehr wichtige Schweizer Historikerinnen und Historiker zur Mitarbeit zu gewinnen, so dass wir gewisse Aspekte, die bisher nur oberflächlich bekannt waren, vertiefen konnten. Es gibt jedoch immer noch Forschungslücken in Grimms Wirken, die zu schliessen wären. Seine Eisenbahnpolitik als Direktor der BLS wäre beispielsweise ein interessanter Aspekt oder seine Tätigkeit als Gemeinderat der Stadt Bern, wo er für die industriellen Werke zuständig war.

Grundlage für das neue Werk bildet eine wissenschaftliche Tagung, die zum 50. Todestag Robert Grimms 2008 durchgeführt wurde. Weshalb hat es so lange gedauert, bis nun ein Buch dazu vorliegt?
Die erste Planung war einfach unrealistisch. Wenn man mit so vielen Autorinnen und Autoren zusammenarbeitet, braucht es seine Zeit. Wir haben diese Zeit auch genutzt, um ein paar Zusätze einzubringen, die bei einer schnelleren Realisierung keine Aufnahme ins Buch gefunden hätten. Über diese Abrundung des Werks sind wir sehr glücklich.

Grimm-BuchcoverRobert Grimm
Marxist, Kämpfer, Politiker
Herausgegeben von Bernard Degen, Hans Schäppi und Adrian Zimmermann,
mit zwölf Beiträgen namhafter Autorinnen und Autoren
Chronos-Verlag 2012
232 Seiten, 23 Abbildungen s/w, Fr. 32.—
ISBN 978-3-0340-0955-3

Zur Person von Robert Grimm

Robert Grimm wurde 1881 in Wald ZH geboren. Er besuchte die Sekundarschule und machte eine Lehre als Typograph. Nach mehreren Jahren der Wanderschaft als Handwerker in Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien arbeitete er von 1906 bis 1909 als Gewerkschaftssekretär in Basel, wo er auch zwei Jahre im Grossen Rat sass. Ab 1909 bis 1918 wirkte er als Chefredaktor der «Tagwacht» in Bern, wo er im Stadt- und Kantonsparlament Einsitz nahm. Über 40 Jahre lang gehörte er zudem dem Nationalrat an. 1918 bis 1938 amtete er als Berner Gemeinderat (Direktor der industriellen Betriebe) und 1938 bis 1946 als erster SP-Regierungsrat (Bau- und Eisenbahnwesen) im Kanton Bern. Im Nebenamt übernahm er 1939 bis 1946 die Leitung der Sektion Kraft und Wärme innerhalb der kriegswirtschaftlichen Administration des Bundes. 1946 bis 1953 war er zudem Direktor der BLS.

Mit seiner Schrift über den Massenstreik sorgte er 1906 für erstes Aufsehen. 1915 und 1916 organisierte er die Konferenzen von Zimmerwald und Kiental, auf der sich die sozialistischen Kriegsgegner trafen (Zimmerwalder Bewegung). Zu Lenin selber hatte er ideologisch und persönlich ein gespanntes Verhältnis. Als Präsident des Oltner Aktionskomitees verfasste Grimm 1918 den Aufruf zum Generalstreik und übernahm den Vorsitz der Streikleitung. Die deswegen von einem Militärgericht über ihn verhängte sechsmonatige Gefängnisstrafe nutzte er zur Niederschrift seiner «Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen». 1920 lehnte die SP unter seinem Einfluss den Beitritt zu der 1919 in Moskau auf Initiative Lenins gegründeten Dritten Internationalen ab, sie blieb aber in ihrem neuen Parteiprogramm dem Klassenkampf treu. Die Integration der SP ins politische System der Schweiz erfolgte 1935 mit dem von Grimm massgeblich mitgeprägten Bekenntnis zur Demokratie und zur Landesverteidigung. Nach dem 2. Weltkrieg wandte er sich gegen die völlige Eingliederung der Sozialdemokratie in die bürgerliche Front des Kalten Krieges und geriet deshalb in den Verdacht, ein Krypto-Kommunist zu sein. at