Veröffentlicht am 05.02.2015FOTO UND TEXT: Leila Chaabane

Florian Wettstein, Wirtschaftsethiker der Universität St. Gallen (links), Ylfete Fanaj, Integrationsbeauftragte des Kantons Nidwalden und Mark Terkessidis, Migrationsforscher und Publizist, am Caritas-Forum in Bern.

Die Herausforderung annehmen

Nicht die Integration müsse im Fokus stehen sondern die Frage, ob Arbeitgeber und Gesellschaft fit für die multikulturelle Vielfalt sind. So Mark Terkessidis, Migrationsforscher und Publizist, am Caritas-Forum 2015.

«Der Begriff Integration riecht schimmlig und ist veraltet», sagt der deutsche Migrationsforscher Mark Terkessidis. Der Titel seiner Rede am diesjährigen Caritas-Forum: «Innovation statt Integration». In Anbetracht dessen, dass in Städten wie beispielsweise in Zürich 60 Prozent der Wohnbevölkerung einen Migrationshintergrund aufwiesen, sei das Wort Integration nicht mehr zeitgemäss. Als Beispiel einer anderen Sichtweise nennt er einen interkulturellen Kurs in St. Gallen, bei dem von den Teilnehmenden verlangt wurde, nicht die Stadt zu sehen, wie sie sein soll, sondern, wie sie ist – mit ihrer ganzen Vielfalt. «Diese Vielheit wird oft nicht gesehen. Aber sie ist die neue Realität in Europa.»

Die Verleugnung dieser Realität koste mehr, als die Herausforderung des Zusammenlebens anzunehmen: «Egal wo Sie arbeiten, Sie werden sich immer mit Migration auseinandersetzen müssen.» Deshalb ist für Mark Terkessidis klar, dass die wirkliche Frage, die sich Arbeitgeber stellen müssen, lautet: «Ist dieser Betrieb eigentlich fit für die Vielheit?» Es helfe nichts, wenn zum Beispiel in einer Berliner Schule 80 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund aufwiesen, im Lehrerzimmer aber nur der gutbürgerliche Deutsche zu finden seien. «Solche Personalbestände müssen geändert werden.» Eine Möglichkeit, dies umzusetzen, sieht der Migrationsforscher in der Anonymisierung der Bewerbungsunterlagen. Damit stehe die Qualifizierung und nicht die Herkunft im Vordergrund.

Menschen mit «Vibrationshintergrund»

«Ich habe mich geweigert, den Titel meiner Rede ‹Vibrationshintergrund als Zukunftschance› zu ändern», sagt Ylfete Fanaj, Integrationsbeauftragte des Kantons Nidwalden und Luzerner Kantonsrätin. «Auch wenn ich jetzt wirklich nicht wissen möchte, was das Wort in den einzelnen Köpfen von ihnen für Bilder hervorrufen mag.» Damit sorgt sie für lautes Gelächter unter den 250 Besuchenden im Kultur-Casino Bern. Sie habe sich nicht verschrieben, sondern wolle damit ein Szenario beschreiben, das sie an einem Workshop mit jugendlichen Migrantinnen erlebte. Einem der Mädchen fiel auf, dass in diesem Workshop alles Ausländerinnen waren. Ein anderes stellte darauf klar, dass man heute nicht mehr Ausländer sage, sondern Menschen mit Vibrationshintergrund. Worauf die anderen Mädchen kopfnickend zustimmten, ohne den Versprecher zu bemerken.

Ylfete Fanajs Anliegen ist, sich von den fixen Bildern, die Menschen seinem Gegenüber zuschreiben, zu lösen, um ein unverkrampftes Zusammenleben zu ermöglichen. Zugewanderte Menschen brächten neue, spannende Aspekte mit in die Gesellschaft, so dass diese anfange zu vibrieren. Sie fordert insbesondere Gemeinden und Vereine auf, Migranten aktiver an Anlässe einzuladen. 

Teil der Globalisierungsprozesse

«Es gehört zur Migrationspolitik, dass sie nie zur Ruhe kommt», betont Sandro Cattacin, Professor der Soziologie an der Universität Genf. Die Zeiten, in denen Familienunternehmen beinahe wie selbstverständlich von Generation zu Generation  übergeben wurden oder der Wohnort von der Geburt bis zum Tode derselbe blieb, seien längst vorbei.

Wer heute Schule, Lehre, Studium, Bachelor und Master in ein und demselben Kanton mache, werde sich schwer tun, einen Job zu finden. Immobilität sei ein Problem in einer Gesellschaft, in der sich die nationalstaatliche Zugehörigkeit auflöse und einer neuen, multiplen und urbanen Staatsangehörigkeit Platz mache. «Die Migrationspolitik muss von der Gesellschaft als Teil der Globalisierungsprozesse verstanden und gestaltet werden.» Obwohl die Schweiz immer multikultureller werde, hielten viele noch immer an alteingesessenem Brauchtum fest. Dabei sei das Fondue längst nicht mehr in allen Haushalten Tradition.

Empathie und Würde

Florian Wettstein, Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen, analysiert die Zuwanderung aus wirtschaftsethischer Perspektive. «Mitarbeiter werden zu Humankapital oder Produktionsfaktoren.» Die Instrumentalisierung zugewanderter Arbeitskräfte wiege schwer und ihre Daseinslegitimation verkomme zur reinen Nutzenfunktion. Dies habe Diskriminierung, Vorurteile und Rassismus zur Folge.

Als Gegenmittel sieht Florian Wettstein die Humanisierung der Wirtschaft, die er mit der Grundperspektive «Würde statt Nutzen» und der Grundeinstellung «Empathie statt Desinteresse» definiert. Die unantastbare Würde jedes Menschen sei zu respektieren. Die Wirtschaft müsse dem Menschen nicht nur im materiellen Sinne, sondern auch in Bezug auf Anerkennung dienen. «Ein jeder kann Empathie lernen, sie zur Gewohnheit machen und sich für die ‹gute› Seite der Medaille – die uns zu Menschen macht – entscheiden.»

Die Lösung sieht der Wirtschaftsethiker darin, dass wir uns wieder mehr für einander interessieren – besonders im Arbeitsmarkt. Desinteresse sei nicht die Lösung, sondern die Wurzel des Problems und bedeute nicht Neutralität, sondern Gleichgültigkeit.

Caritas-Forum
Das Caritas-Forum ist eine sozialpolitische Tagung der Caritas Schweiz, die jährlich im Januar stattfindet. Sie widmet sich jeweils einem aktuellen gesellschaftspolitischen Thema. Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Politik und dem Sozialbereich diskutieren in Referaten und in Podiumsgesprächen Strategien und Lösungsansätze. Am Caritas-Forum 2015 zum Thema «Zuwanderung» nahmen 250 Personen teil.