Veröffentlicht am 15.10.2014FOTO UND TEXT: Leila Chaabane

Tom und Rolf Wegner im Wald bei Lützelflüh (BE).

Der letzte Biss ist Ehrensache

Vom 1. Oktober bis zum 15. November erscheint Tom Wegner zwei Tage die Woche nicht an seinem Arbeitsplatz. Mit seinem Bruder Rolf zieht er durch den Wald, auf der Jagd nach einem Reh.

Eine unruhige und kurze Nacht. Tom Wegner steigt zerknirscht in den Jeep seines Bruders. Sein Bauchgefühl sagt ihm an diesem Mittwochmorgen, dass die Natur ihm heute nichts schenken wird.

In der Musik liebt der 45-Jährige eher die harten Töne, der Fussballmannschaft YB ist er seit Kindheitstagen treu und als Polygraf lässt er Worte und Bilder im Glanz erscheinen. Doch Tom Wegner fährt nicht zur Arbeit. Steil führt die kurvenreiche Strasse durch den Wald, an Feldern und vereinzelten Bauernhöfen vorbei. Der dichte Nebel lichtet sich, die Sonne dringt durch.

Der schwarze Cherokee hält am Waldrand neben einem Holzstapel. Jetzt ist der Himmel blau und das Nebelmeer zieht sich über die Felder von Lützelflüh (BE) zurück. Tom WegnerTom Wegners Stimmung ändert sich schlagartig. Der heisse Kaffee aus der Thermoskanne wärmt sein Gemüt, der Wald bringt ihm Ruhe und die Gesellschaft seines Bruders schenkt Vertrautheit. Ihr gemeinsames Vorhaben, ein Reh zu jagen, lässt sein Adrenalin ansteigen. «Das ist wie noch einmal eine Chance zu bekommen, den Tag neu zu starten. Hier in der Natur werden meine Sinne wach, das Gehör gewetzt und die Augen auf scharf gestellt.»

Ein eingespieltes Team

Seit neun Jahren begleitet er seinen älteren Bruder auf die Jagd. «Damals, als Tom kein Jagdpatent besass, durfte nur ich schiessen. Tom musste jedes Mal durch die Büsche pirschen und die Tiere auf die Läufe bringen. Mein ganz persönlicher Jagdhund sozusagen», sagt Rolf Wegner mit einem Grinsen im Gesicht. Seit zwei Jahren besitzt auch Tom Wegner das Jagdpatent. Erfolgreich war er in dieser Zeit erst einmal. Aber da sich die zwei Brüder die Arbeit aufteilen, ist es ihm nicht wichtig, wer das Reh geschossen hat.

Treffen sie andere Jäger, gehen sie weiter und suchen sich ein neues Revier. Nicht nur, weil es eine Ehrensache unter Jägern ist, nicht in das Gehege des Anderen zu kommen oder weil das Jagdgesetz nicht mehr als maximal fünf Jäger an einem Standort erlaubt, sondern auch, weil sie am liebsten alleine unterwegs sind. Der perfekte Augenblick, die Bruderbeziehung zu pflegen. «Man muss sich verstehen, einander fühlen und kennen. Das ist wie gemeinsam Kochen: Ohne Teamarbeit wird das Essen ungeniessbar.»

Mit dabei ist immer ein grosser Proviantkorb. Um die Mittagszeit machen die patentierten Jäger am Waldrand ein Feuer und braten eine schmackhafte Rösti in der Pfanne. Noch hat sich kein Reh blicken lassen. Der Wald ist still. Kein Laut, kein Knacken oder Rascheln ist zu hören. Keine Spuren, denen Tom Wegner folgen könnte. Doch Frust kommt nicht auf. Zu sehr geniesst er die jeweils zwei Tage, die er während den sechs Wochen Rehjagd im Wald verbringt. «Enttäuscht bin ich erst, wenn ich am Ende der Saison kein Reh geschossen habe und die 690 Franken für das jährliche Basis- und Rehpatent umsonst gekauft habe.»

Kein wahl- und massloses Gemetzel

«Ein Steak wächst nun mal nicht wie ein Apfel am Baum. Gerade weil ich mich der Natur so verbunden fühle und sie respektiere, gehe ich auf die Jagd.» Ist er erfolgreich, überprüft er die Gesundheit des erlegten Tieres und nimmt es aus. Die restliche Arbeit erledigt später der Metzger. «Koche ich von diesem Fleisch für meine Freunde, Familie oder für mich alleine, tue ich dies viel bewusster und achtsamer.»

Dass er mit seinem Hobby als Jäger auch auf Unverständnis stösst, weiss er. Einem Spaziergänger, der ihn im Wald bei seinem Vorhaben sah und durch Lärmen und Johlen absichtlich das Wild verscheuchte, konnte er nicht böse sein. Aber gelegentlich wünscht sich Tom Wegner mehr Verständnis: «Die Jagd ist kein wahl- und massloses Gemetzel. Der Kanton regelt und kontrolliert den Wildbestand akribisch. Das Reh hat in der Schweiz ausser dem Menschen fast keine natürlichen Feinde mehr. Seit Jahren schränken wir seinen Lebensraum durch den Bau von Siedlungen und Autobahnen ein. Eine Abschaffung der Jagd hätte verheerende Folgen auf das Ökosystem Wald.»

Tom Wegner will der Natur mit derselben Sanftheit begegnen wie sie ihm. Sieht er ein Muttertier mit Jungen, schiesst er nicht auf sie. Ein angeschossenes Reh würde er nie seinem Schicksal überlassen, sondern umgehend die Nachsucheorganisation (NASU) kontaktieren, die für solche Fälle auf Abruf bereit steht und hilft, das verletzte Tier zu suchen. Haben die Brüder ein Reh geschossen, lassen sie sich Zeit und zelebrieren das Brauchtum der Jäger: «Das Reh bekommt zur Ehre den ‹letzten Biss›, den Tannenzweig in den Mund gesteckt. Manchmal ziehen wir aus Dankbarkeit dabei den Hut», sagt Tom Wegner.

Um 16.00 Uhr setzen sich die Brüder mit einem Bierchen bei der Feuerstelle hin. Nur ein schüchterner Rauchschwaden erinnert noch an das Mittagsfeuer. Entspannt und friedlich lassen sie den Tag Revue passieren. Tom Wegners Bauchgefühl hat ihn nicht getäuscht: «Die Natur hat uns heute nichts geschenkt.» 

Jagdreglement des Kantons Bern
Jagdpatent Die Ausbildung dauert zwischen 12 bis 15 Monate und kostet inklusiv Lernmaterial 900 Franken.
Basispatent Das Patent muss jährlich neu gelöst werden und kostet 250 Franken. In Verbindung mit einem Zusatzpatent reduzieren sich die Kosten auf 100 Franken.
Rehpatent Ein Reh darf nur mit einem gültigen Jahrespatent geschossen werden. Dies kostet 400 Franken und berechtigt den Abschuss von zwei Rehen.
Zusatzpatent Ein Jäger darf maximal acht Zusatzpatente für je 160 Franken lösen. Die Anzahl ist jedoch auf die vom Kanton freigegebenen Tiere limitiert.
Weitere Kosten Zusätzlich zum Basis- und Rehpatent bezahlt der Jäger 150 Franken Wildschaden- und 40 Franken Hegezuschlag.
Rehjagdsaison Im Kanton Bern dauert die Saison jedes Jahr vom 1. Oktober bis 15. November. Dienstag, Donnerstag, Freitag, Sonntag und an Feiertagen sind Schontage.