Veröffentlicht am 01.11.2010TEXT: Paola Pitton

«Armut ist der Extremfall von Ungleichheit»

Ist jemand arm, der sich keinen Kinobesuch leisten kann? Nein, finden Gutsituierte wie Betroffene häufig. Der St. Galler Soziologieprofessor über Armut in der Schweiz – und warum sie geleugnet wird.

Herr Schultheis, kennen Sie arme Menschen persönlich?
Franz Schultheis: Armutsbetroffene kenne ich durch meine Forschungsprojekte. Privat bekomme ich Arme kaum zu sehen. Armut grenzt aus. Arme Menschen leben zurückgezogen in bestimmten Quartieren - in der Öffentlichkeit, sei es im Kino oder in der Beiz, sind sie kaum anzutreffen.

Arme erhalten staatliche Unterstützung. Sind diese Menschen dann immer noch arm?
Im Gegenteil: Arm sind nur diejenigen, die unterstützt werden. Weil nur sie als arm anerkannt sind; alle anderen, die durch das Netz fallen - weil sie sich etwa schämen, aufs Sozialamt zu gehen -, gelten nicht offiziell als arm. Die vom Staat bekämpfte Armut schafft Armut nicht ab, sie institutionalisiert Armut.

Was meinen Sie damit?
Sozialhilfe kriegen Betroffene, damit sie auf ein gesetzlich festgelegtes finanzielles Minimum kommen. Das ist die Armutsgrenze. Die Frage ist: Was gehört zu einem menschenwürdigen Dasein? In Deutschland wurde bei der Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze vor kurzem das Geld für Tabak und Alkohol mit der Begründung gestrichen, das brauche man nicht unbedingt. Damit definieren wir das Grundbedürfnis nahe beim schlichten Über­leben. Dagegen berechnen wir kaum mit ein, was zu den kulturellen Grundbedürfnissen unserer Gesellschaft gehört: Fernseh­gerät und Telefon, aber auch seinem Kind den Skiurlaub mit der Schule erlauben und sich auch mal einen Kino- oder Theater­besuch leisten zu können. Wer Sozialhilfe bezieht, kann nicht an der Normalität des Alltags teilnehmen.

Ist man arm, wenn man sich keinen Kinobesuch leisten kann? Auf einen kürzlich im Schweizer Fernsehen gezeigten Dokumentarfilm über Familien mit sehr knappen Budgets reagierten Zuschauer empört. Sie hätten auch nicht mehr zum Leben, würden sich aber nie als arm bezeichnen. Warum diese Haltung?
Niemand will sich als arm bezeichnen. Armut ist ein Makel. Armut identifizieren wir mit Versagen und gesellschaftlichem Misserfolg. Man ist Bürger zweiter Klasse, minderwertig. Nicht nur wir Gutsituierten wollen Armut nicht sehen, um Fragen auszuweichen, ob es in unserer Gesellschaft gerecht zugeht: Haben wir eine Demokratie im Sinn einer gesellschaftlichen Teilhabe aller? Auch die Betroffenen verleugnen Armut. So entsteht der Eindruck, Armut gäbe es nicht. Ein Teufelskreis.

Die Armut sei selbstverschuldet, befanden Zuschauer bei einer im Film gezeigten kinderreichen Familie und einer Alleinerziehenden.
Wir beklagen den Geburtenrückgang und wissen gleichzeitig, dass Haushalte mit drei oder mehr Kindern überproportional häufig arm sind - das ist zynisch. Dasselbe gilt für Alleinerziehende - meist Frauen. Mit dem Vorwurf, diese hätten sich nicht scheiden lassen oder nicht ohne Ehemann ein Kind in die Welt setzen sollen, verleugnen wir unseren heutigen individualisierten Lebensstil, zu dem Scheidungen und Trennungen gehören.

Ein weiterer Vorwurf lautet, viele Menschen seien arm, weil sie über ihre Verhältnisse lebten.

In Haushalten, in denen man basteln muss, damit es bis zum Monatsende reicht, ist es kaum möglich, eine ökonomische Umgangsweise mit Geld zu entwickeln, weil man keine Ressourcen hat, um über Monate oder Jahre zu planen. Da passiert es schnell, dass man sich übernimmt und in eine Armutsspirale gerät. Bei diesen prekären Haushalten braucht es nur ein, zwei negative Faktoren, wie plötzliche Arbeitslosigkeit, und man rutscht in die Armut ab.

Warum lässt sich nicht klar definieren, wer arm ist in der Schweiz?
Es gibt nicht zwei Zustände, arm oder nicht arm. Gerade die Grauzone dazwischen wächst ständig. In unsicheren Lebens­lagen befinden sich etwa Working Poor, Menschen mit einem Einkommen knapp über der Armutsgrenze. Betroffen sind rund zehn Prozent aller Gehaltsempfänger. Auch hier können eine Scheidung oder ein teurer Zahnersatz reichen, um in den Teufelskreis der Armut zu geraten.

Wer ist arm in der Schweiz?
Überproportional betroffen sind Kinder und Jugendliche sowie die Personen, die sich in der Regel um diese Altersgruppen kümmern, die Frauen. Armut wird vererbt: Ein Kind aus einer bildungsfernen Familie hat eine extrem schlechte Startposition für den grossen Wettlauf in unserer Gesellschaft. Die Chancenungleichheit ist in der Schweiz immer noch extrem gross - grösser als in den meisten anderen Gesellschaften. Wir haben weiterhin eine Unterschicht; die Chancen für Kinder, daraus aufzusteigen, stehen schlecht. Armut ist der Extremfall von Ungleichheit und Verteilungsungerechtigkeit.

Auch wenn die Chancen nicht für alle gleich sind, die Schweiz ist ein reiches Land mit einem ausgebauten System der sozialen Sicherheit. Warum gibt es Armut?
Unser soziales Sicherungssystem ist nicht unbedingt besser als das in weniger privilegierten Gesellschaften. Die Schweiz ist eine Wohlstands- und Konsumgesellschaft, in der es einem sehr gut geht, wenn man wohl integriert ist: in den Arbeitsmarkt, mit einer guten Ausbildung. Wer es nicht ist, dem droht trotz allem immer noch Armut. Wir haben zwar nicht das Armutsniveau Frankreichs oder Portugals. Bedenkt man aber, wie sich das Armutsphänomen zum gesamtgesellschaftlichen Reichtum ausnimmt, ist Armut in der reichen Schweiz skandalöser als in vielen anderen Gesellschaften.

In seinem Strategiepapier schreibt der Bundesrat: «Die Bekämpfung der Armut ist eine Aufgabe aller staatlichen Ebenen wie auch der Zivilgesellschaft.» Ist also auch die Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen?
Man könnte meinen, nein. Arme, ausser den Working Poor, sind nicht Teil des Arbeitslebens - was sollte die Wirtschaft tun? Deswegen haben wir das Problem dem Staat übergeben. Das finde ich jedoch falsch. Von der Wirtschaft sollten wir zum Beispiel garantierte Mindestlöhne fordern, weil viele Löhne den Lebens­haltungskosten hinterherhinken und zu Armut führen können. Oder auch, dass sie für Alleinerziehende flexible Arbeitsbedingungen schafft. Grosse Unternehmen sollten eine Sozialpolitik haben.

Während einer Wirtschaftskrise können Arbeitnehmer nicht fordern, sondern müssen schauen, dass sie konkurrenzfähig bleiben.

Unternehmen haben heute tatsächlich eine lange Liste an handfesten Erwartungen: Der idealtypische Arbeitnehmende muss employable sein, sprich mobil, flexibel, Unternehmer seiner selbst, sich lebenslang weiterbilden und so weiter. Versuchen Kaderleute, also mit Bildungskapital ausgestattete Menschen, diese Forderungen einzulösen, sind sie dafür gerüstet. Das sieht für schlecht Ausgebildete anders aus. Hier zu sagen, ihr kriegt über mein Leiharbeitsbüro für sechs Wochen einen Job, meldet euch danach wieder, bringt sie weder in ihrer Karriere weiter, noch qualifiziert es sie besser. Es entsteht im Gegenteil eine Form von erzwungener Flexibilität; für einen geringen Lohn haben sie immer höhere Anforderungen zu erfüllen. Ausserdem: Schaue ich mir Manager-Boni und Bruttoinlandprodukt an, kann von Krise keine Rede sein. Wir sind eine extrem reiche Gesellschaft und hätten genug Mittel, um Armutsbetroffenen aus der Bredouille zu helfen. Wenn wir dieses politische Ziel wirklich verfolgen würden.

Die Schere zwischen Arm und Reich weitet sich. Warum nehmen wir das hin?

Menschen neigen dazu, den Konsens zu suchen. Wir sind bereit, zu glauben, dass jeder in der Gesellschaft das bekommt, was er verdient. Kommt hinzu, dass die Armutsbevölkerung keine Lobby hat. Sich mit Armut zu beschäftigen, ist für Politiker nicht prestigeträchtig. Damit lassen sich nicht gross Wählerstimmen gewinnen. Es gibt eine populistische Abneigung gegen das Armutsthema, nach dem Muster: Wir haben etwas gegen die ganz unten, die Sozialschmarotzer, die in der sozialen Hängematte liegen. Eine Lobby ist auch schwer zu organisieren, weil sich die Armutsbevölkerung nicht auf einen Nenner bringen lässt.

Der Bund hat Armutsbekämpfung jetzt zur Chefsache erklärt. Einer seiner Schwerpunkte zur Armutsbekämpfung ist Bildung. Der richtige Weg?

Ja, wenn sie früh genug ansetzt. Bildungstitel sind kein einfacher Scheck, den man einlösen kann. Die Bildungsexplosion ab den 1960er Jahren hat zu einer Titelinflation geführt. Wo früher der Sekundarschulabschluss reichte, braucht man heute oft die Matur. Die Auswahl erfolgt später, über subtile soziale Selektionsprozesse: Auftreten, Kleidung, Smalltalk, Sozialkapital - also das Beziehungsnetz -, diese gesellschaftlichen Ressourcen, die auch ungleich verteilt sind, sind dann entscheidend.

Als weitere Hauptstrategie will der Bund Sozialhilfeempfänger wieder in den Arbeitsmarkt integrieren. Wird das funktionieren?
Für Langzeitarbeitslose kann eine persönliche Ansprechperson hilfreich sein. Im Zusammenspiel zwischen Institution, Betroffenem und Arbeitgeber kann Aktivierung entstehen. Diese Strategie funktioniert aber nicht immer: Was soll ich aktivieren bei einer Mutter von zwei kleinen Kindern? Oder einer Person, die wegen fehlender Ausbildung in eine so schlechte Joblage gerät, dass der Unterschied zwischen dem, was sie mit einem Vollzeitjob verdient, und dem, was sie von der Sozialhilfe bekommen würde, so gering ist, dass sich Arbeit nicht lohnt?

Was also ist zu tun?

Um den Teufelskreis der Vererbung von Armut zu durch­brechen, müssen wir in die Verbesserung von Lebenschancen investieren, etwa über möglichst frühkindliche Erziehung in Kinderkrippen ...

Diese haben wir bereits.
Ganz wenig. Die Schweiz ist hier weit unterentwickelt. Hier gilt noch ein privatistisches Erziehungsideal: Das Kind gehört in die Familie. Das funktioniert bei Wohlstandsfamilien, aber nicht bei bildungsmässig und finanziell schlecht gestellten Familien. Weiter muss Lohngerechtigkeit her, um das Phänomen der Working Poor in den Griff zu kriegen. Und: Armut muss im Gespräch bleiben.